Versickerungstendenzen
Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.
Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.
Ein Regenwurm ernährt sich von Erde und vermodertem Pflanzenmaterial. Brauchbare Stoffe nimmt er auf, die zerkleinerten Überreste scheidet er aus. Dadurch lockert er das Erdreich auf, hilft dem pflanzlichen Verrottungsprozess und produziert fruchtbaren Humus. Dieser wiederum wird von den Pflanzen benötigt, die Nährstoffe daraus ziehen und den Humus wieder zu gewöhnlicher Erde machen. Gemäss dem Medientheoretiker und Philosophen Vilém Flusser funktioniert unsere heutige Gesellschaft ähnlich: Als Menschen nehmen wir «Natur» auf und verwerten sie zu «Kultur». Mit der Zeit werden die so hergestellten Kulturgüter Abfall, sie verlieren ihren Wert und zerfallen wieder zu «Natur». Oder zumindest zu Material, welches kulturell nutzlos und somit wertfrei geworden ist. Dieses wertfreie Material kann nun wieder verwertet werden. Ein ewiger Kreislauf von wertfrei-Verwertung-wertvoll-wertlos-wertfrei etc.
Dieses Modell kann auf das Verhältnis von Neuer Musik und Konsum übertragen werden. Dabei verstehe ich Konsum als einen Mechanismus, der Produkte möglichst breit zu verkaufen versucht. Neue Musik ist nun nicht dafür bekannt, dass sie ihre Produkte auf die breite Verkäuflichkeit hin entwirft. Sie ist eine dem Konsum eher abgewandte Musikart. Die Neue Musik versteht sich vielmehr als Speerspitze des Flusserschen Verwertungsprozesses. Sie ist sozusagen der Mund, der sich die als wertlos angesehenen Dinge – in diesem Fall z. B. Klänge – einverleibt und aufzuwerten weiss. Die europäische und amerikanische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts kann unter den Stichworten Emanzipation der Dissonanz und des Geräusches ein Lied davon singen. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde die Dissonanz unter anderem durch die atonale und zwölftönige Musik Arnold Schönbergs als neue Klangsprache etabliert und somit wertvoll gemacht. Im Laufe des Jahrhunderts wurde dann das blosse Geräusch als musikalisches Material kulturell aufgewertet.
Doch diese Errungenschaften der Neuen Musik versickern mit der Zeit – gemäss dem Verdauungsprozess des Regenwurms –, sinken in andere Bereiche ab. Die clusterhaften Dissonanzen Strawinskys oder Schönbergs sind zu gängigen Techniken der Filmmusik und zum «Markensound» von erschreckenden Horrorszenen geworden. Das Sampling des Hip-Hops kann als Nachfolge der Tonbandtechniken gesehen werden, die durch die Musique concrète eingeführt wurden. Und in einer SRF-Sendung zur Minimal Music (Musik unserer Zeit, Mai 2016) erzählt der Komponist und Dirigent Irmin Schmidt, dass er die deutsche Krautrock-Band Can gegründet hat, nachdem er in New York 1966 mit der Minimal Music von Terry Riley und LaMonte Young in Berührung kam. Wohlgemerkt nachdem er bei Karlheinz Stockhausen und György Ligeti studiert hatte.
Die Neue Musik ist also kein abgeschlossener Bereich, in dem Hochkultur zelebriert wird und Konsum keinen Platz findet. Ständig versickern Techniken und Konzepte der Neuen Musik in andere, dem Konsum stärker zugeneigte Bereiche.
Doch wie sieht es in der umgekehrten Richtung aus? Dringen auch Klänge, Methoden, Techniken aus konsumorientierteren Musikbereichen in die Sphäre der Neuen Musik ein? Ein Beispiel: 2013 komponierte Hannes Seidl ein Stück mit dem sperrigen Titel Die letzten 25 Jahre in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x. Das Stück kann als «Cover» der Studie II von Karlheinz Stockhausen (UA 1954) verstanden werden. Die Studie II ist nur aus elektronisch erzeugten Sinustönen aufgebaut und gilt als früher Meilenstein der elektronischen Musik. Stockhausen hat dafür eine elaborierte Partitur angefertigt, die jedem ermöglicht, das Stück «nachzubauen». Seidl hat dies für Die letzten 25 Jahre getan. Nur hat er dafür nicht Sinustöne als Grundlage verwendet, sondern eben die No. 1 Hits der deutschen Charts der Jahre 1988 bis 2013.
Zum einen ist Seidls Stück ein Beispiel dafür, dass auch Klänge aus der Pop-Musik inzwischen in der Neuen Musik Verwendung finden, dass also nicht nur Versickerungstendenzen von der Neuen Musik Richtung konsumorientierter Musik, sondern auch umgekehrt zu beobachten sind. Zum anderen dienten dem «Regenwurm» Hannes Seidl nicht nur die Pop-Hits der Jahre 1988 bis 2013 als «Futter», sondern auch Stockhausens Studie II. Daraus könnte man nun schliessen, dass nicht nur die Pop-Hits von vorgestern, sondern auch die Studie II von Stockhausen inzwischen zu wertlosem «Abfall» geworden sind. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass Flussers Regenwurmmodell immer auf einer bestimmten Perspektive beruht. Was nun z. B. Komplexität, Erneuerungsstreben, Formalismus oder Elitismus angeht, gehört die Neue Musik zur Speerspitze der Musik. Was Kategorien wie Verkaufszahlen oder Radiotauglichkeit betrifft, würden die Pop-Charts die Neue Musik um Längen schlagen. Aus dieser Perspektive sind sowohl Stockhausens Studie II als auch Seidls Die letzten 25 Jahre ziemlich wertlos.
Hannes Seidl verbindet in Die letzten 25 Jahre die Verwertungskreisläufe der Neuen Musik und die der Pop-Musik auf kritische Weise. Durch das Recycling des Stockhausen-Stückes mittels Pop-Hits verweist er auf den Klassikerstatus von Studie II, die man – gemäss den Mechanismen der Pop-Musik – deshalb covern darf. Gleichzeitig spricht er dem Stück eine gewisse veraltete Ästhetik zu, die er auf ironische Weise durch die Verwendung der auch schon veralteten Pop-Hits zu erneuern sucht. Sowohl die No. 1-Hits als auch die Studie II sind passé. Nur sind die Halbwertszeiten unterschiedlich lange.
Die Parallelen gehen noch weiter. Sicherlich ist die Neue Musik nicht in der gleichen Weise wie die Musik der neusten Popsternchen den Mechanismen des konsumorientierten Markts unterworfen, doch gänzlich frei von Verkaufsargumenten ist selbst die hehre Neue Musik nicht. Obwohl sie grösstenteils in einem durch Subventionen und Stiftungsgelder geschützten Raum entsteht, spielen verkaufsfördernde Aspekte auch in der Neuen Musik eine Rolle. Wobei sich der Erfolg weniger in den Ticket- und CD-Verkäufen als im Interesse und Förderungswille der Kulturausschüsse, Stiftungen und Wettbewerbsjurys manifestiert.
Es stellt sich dabei die Frage, ob die Neue Musik nicht die Aufgabe hätte, diese Wünsche der Jurymitglieder, Konsumentinnen und Konsumenten etc. zu thematisieren und zu hinterfragen statt zu befriedigen. Gemäss Clement Greenbergs berühmtem Essay von 1939 Avant-Garde and Kitsch imitiert und thematisiert die Avantgarde (zu der man die Neue Musik zählen mag), die Prozesse der Kunst, während ihr Gegenpart, der Kitsch, die Effekte der Kunst imitiert. Dementsprechend muss sich Neue Musik, die ihr «Neu» im Namen noch verdient, auf die Prozesse der Kunst und der heutigen Kunstlandschaft beziehen. Die eigene Disziplin zu zitieren, zu hinterfragen und zu kritisieren, stellt somit eine notwendige Bedingung für interessante Ergebnisse dar. Damit einher geht die von Seidl mittransportierte Einsicht, dass Neue Musik und Konsum sich nicht ganz so spinnefeind sind, wie man vielleicht annehmen könnte.
Literatur
Vilém Flusser: Die Informationsgesellschaft als Regenwurm, in: Gert Kaiser, Dirk Matejovski, Jutta Fedrowitz: Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. und New York 1993, S. 69-80.
Hannes Seidl: Die letzten 25 Jahren in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x; Exzerpte und mehr Informationen unter: http://studios.basis-frankfurt.de/works/die-letzten-25-jahre-/ [eingesehen: 4. Juli 2016].
Hannes Seidl: Neu. Über die Ökonomie Neuer Musik, in: Kunstmusik 13 (2010), S. 46-52.
Clement Greenberg: Avant-Garde and Kitsch, in: Partisan Review 6/5 (1939), S. 34-49.
Jaronas Scheurer
… ist Masterstudent an der Universität Basel (Musikwissenschaft und Philosophie), Hilfsassistent am Musikwissenschaftlichen Seminar Basel und Musikjournalist.