Boulez bei Burger King?

Neue Musik zum schnellen Verzehr.

Mit Pierre Boulez starb diesen Januar die letzte grosse Gründerfigur der Neuen Musik. In den obligaten Nachrufen wurde versucht, seinem breiten Wirken gerecht zu werden. Manchmal stand der Komponist Boulez im Zentrum des Interesses, manchmal der Dirigent und zuweilen gar der Kulturfunktionär. Schliesslich aber zielten alle diese Texte auf die alles entscheidende Frage: Wird er, wird seine Musik bleiben?

Ohne zu übertreiben kann sie als die Gretchenfrage der Kunstrezeption bezeichnet werden. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird zum grossen Komponisten nur erklärt, wer vor dem Urteil nachfolgender Generationen besteht. Eine Haltung, die dem heutigen Klassik-Betrieb einige Probleme beschert. Besonders zu leiden hat dabei das zeitgenössische Musikschaffen, das im Verlauf des 20. Jahrhunderts an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrängt wurde. Oft wird die Schuld dafür beim Musikbetrieb, dem Publikum oder anderen dunklen Kräften gesucht. Dabei geht aber vergessen, dass nicht nur die Rezipienten, sondern die Produzenten selbst wenig Interesse an der Gegenwart zeigen. Denn auch die Komponisten unserer Zeit haben verinnerlicht, dass nur der wirklich zählt, dessen Musik überlebt.

Obwohl in der Neuen Musik also viele traditionelle Vorstellungen über die Tonkunst zur Disposition gestellt wurden, halten die meisten ihrer Vertreter am Narrativ der die Zeiten überdauernden Meisterwerke fest – wohl in der Hoffnung, selbst einen Beitrag zum Kanon beizusteuern. Man könnte über diesen romantischen Anachronismus der Avantgarde grosszügig hinwegsehen, indem man ihn zum psychologisch notwendigen Teil einer in unbekannte Gefilde vordringenden Künstlerexistenz verklärt. Könnte man. Doch um dem zeitgenössischen Musikschaffen auch im dritten Jahrtausend Präsenz zu verschaffen, bedarf es frischer Ansätze.

Hamburger statt Filet Wellington

Wagen wir ein Gedankenexperiment – statt Werke für die Ewigkeit zu schaffen, welche dann doch nur einmal aufgeführt werden, könnte man die Not zur Tugend machen: Stücke schreiben für den Augenblick, für genau eine Aufführung, unwiederholbar. Oder, um es mit einem Vergleich zu sagen: Statt ihren Namen in Gerichten wie dem Filet Wellington zu verewigen, sollten sich die Komponisten hinter den Grill bei McDonalds stellen. Musik mit den Vorzügen eines Hamburgers schaffen – schnell zu verschlingen.

Was gäbe es dabei zu gewinnen? Sieht man sich die Entwicklung der Musikbranche an, erkennt man einen kontinuierlichen Zerfall des bisherigen Geschäftsmodells. Die Tonträgerindustrie wurde durch Gratis-Downloads ihres Absatzmarktes beraubt, Geld verdient man höchstens noch mit Konzerten. In der Popmusik verlangen daher die Grössen der Zunft für immer aufwendiger inszenierte Livekonzerte immer höhere Eintrittspreise, während sich in der E-Musik der Kult um Interpreten ins Unermessliche steigert. Während deren Gastspiele zumeist gut besucht werden, bleiben die Säle ansonsten halb leer. Den Trend hin zum Konzert als aussergewöhnlichem Ereignis gilt es aufzugreifen und konsequent weiterzudenken. In Zeiten der Reproduzierbarkeit und digitalen Verbreitung von Musik kann die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Diese Entwicklung zu antizipieren, ist die Herausforderung, aber auch die Chance gerade der Neuen Musik.

Ansätze in dieser Richtung gab es bereits einige. Die Aleatorik der späten 50er-Jahre, wie sie zum Beispiel in Stockhausens Klavierstück XI verwirklicht wurde, kann als Versuch interpretiert werden, einem Werk mit jeder Aufführung eine andere Gestalt zu verleihen. Noch mehr Einzigartigkeit, und somit mehr Eventcharakter, besitzen die ortsgebundenen Stücke des Kanadiers R. Murray Schafer (*1933). So sind im Musiktheater The Princess of the Stars die akustischen Begebenheiten des Aufführungsortes, eines kleinen Sees ausserhalb Torontos, in die Komposition mit einbezogen. Möchte man eine Aufführung des Werks erleben, muss man wohl oder übel nach Nordamerika reisen. Von solchen Ideen ist es nur noch ein kleiner Schritt, Kompositionen derart zu konzipieren, dass sie ein bestimmtes Konzert zu einem einzigartigen, unwiederbringlichen Ereignis machen. Von «Sternstunde» würde dann nicht mehr gesprochen, weil die Tastenlöwin XY mal wieder einen guten Tag hatte –, sondern weil man bei der einzigen Gelegenheit dabei war, das neue Stück zu hören.

Faktor Zeit

Freilich bedingt ein solches Konzept, die Musik entsprechend anzupassen. Da die Wiederholung eines Stückes ausgeschlossen ist, sollte es zum Beispiel bei einmaligem Hören zu verstehen sein. Es sollte schnell konsumierbar sein und keiner umfangreichen Erklärungen bedürfen. Doch widerspricht das nicht dem Selbstverständnis der Neuen Musik? Ist der Gedanke, dass Experimente Zeit brauchen, um verstanden zu werden, nicht konstitutiv für eine dem Fortschritt verpflichtete Musizierhaltung? Gewiss, doch der Blick in die vorklassische Vergangenheit zeigt zumindest, dass man anspruchsvolle Musik auch dann schreiben kann, wenn man weder auf wiederholte Aufführungen noch auf eine verständnisvollere Nachwelt schielt.

Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Johann Sebastian Bach hätten es sich nicht träumen lassen, dass ihre Musik über ihren Tod hinaus weiter aufgeführt würde. Tote Tonsetzer, auch die bekanntesten, besassen höchstens historischen Wert. Dennoch verwandten sie ihr ganzes Können darauf, Werke höchsten Anspruchs zu schaffen. Selbst ein Werk wie Telemanns Tafelmusik, per definitionem ein Stück Gebrauchsmusik, lässt subtil die Kunst seines Autors erkennen. Um den Zweck einer Musique de table nicht zu verfehlen, also ein höfisches Mahl nicht durch übermässige Expressivität der Musik zu stören, liegen die Raffinessen der Partitur auf einer anderen Ebene. Die virtuose Beherrschung unterschiedlichster Genres und Besetzungen ist es, die Telemann darauf hoffen liess, mit Hintergrundmusik Ruhm bei den Zeitgenossen zu erlangen.

Als weiteres Beispiel können Bachs über 200 Kantaten herangezogen werden. Jede Woche hatte nicht nur eine neue geschrieben, sondern auch gleich einstudiert und am Sonntag aufgeführt werden müssen. Dennoch schaffte es der Komponist, den spezifischen Ausdrucksgehalt jedes Textes aufzunehmen und in Musik zu fassen. Solche Mühen nahm er im Wissen oder aus heutiger Sicht eher im Glauben auf sich, dass es beim einmaligen Erklingen dieser Werke bleiben würde.

Zugegeben, diese zwei Beispiele entstammen einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Musik Funktionen einnahm, die sie heute nicht mehr erfüllen kann. Herrschaftliche Repräsentation und die Lobpreisung Gottes zählen nicht zu den primären Aufgaben der Neuen Musik. Trotzdem vermögen sie zu zeigen, dass die Qualität der Musik nicht unter den oben beschriebenen Anforderungen zu leiden braucht. Auch schnell geschriebene, auf Anhieb erfassbare Stücke oder Konzepte können höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen.

Doch wie steht es mit der Idee, dass fortschrittliche Kompositionstechniken Zeit brauchen, um sich zu etablieren, um Allgemeingut zu werden? Ich glaube, dabei wird die Wirkungsmacht der Zeit überschätzt. Dazu eine kurze Anekdote: Vor Jahren beklagte eine alte Dame den Umstand, dass es heute keine «grossen Männer» wie Mozart oder Beethoven mehr gebe. Schon eher defensiv erwiderte ich ihr, dass das nicht stimme, es gebe doch Schönberg. Eine Bemerkung, welche sie nur mit einem spöttischen «Ach, die Modernen» quittierte. Ein Komponist, der dazumal bereits 50 Jahre tot war, wurde von der Dame noch immer als modern abgestempelt. Ein halbes Jahrhundert reichte also nicht aus, um Schönbergs Musiksprache ihres neutönerischen Nimbus zu berauben. Es scheint daher für den avantgardistischen Komponisten ratsam zu sein, nicht allzu viel auf die Zukunft zu geben. Wieso es also nicht mit Hamburgern versuchen? Und keine Angst, bloss am Konsum orientiert ist das nicht. McDonalds Burger sind zwar schnell geschluckt, bleiben aber lange im Magen.
 

Simon Bittermann

… arbeitet seit über 20 Jahren im Musikalienhandel und hat nebenbei Philosophie und Musikwissenschaft studiert. Er schreibt regelmässig Kritiken für den Tages-Anzeiger. Und falls er endlich die Zeit dafür findet, wird er sich in seiner Dissertation mit den Philosophischen Aspekten von Schönbergs Überschreitung der Tonalität herumschlagen dürfen.