Bild und Abbild im hybriden Raum

Im Werk «Mirror Box Extensions» gestaltet der belgische Komponist die alltägliche Verschmelzung unserer realen und virtuellen Lebenswelt musikalisch.

Das Fotografieren oder Filmen seitens der Zuschauer ist an Konzerten in der Regel untersagt. Es lässt sich aber in Zeiten von Smartphones und Co. nicht wirklich unterbinden. Zu schnell ist das kleine Gerät gezückt und eine Erinnerung auf die digitale Speicherkarte gebannt. Und nicht selten sieht man, wie einzelne Zuschauer aus dem Publikum ganze Passagen filmen oder den Ton mit einem Handyrecorder aufnehmen. Dass hier Persönlichkeits- und Urheberrechte verletzt werden könnten, scheint niemanden zu interessieren. Viel zu sehr hat die allumfassende Digitalisierung Einzug in unseren Alltag genommen und der technische Fortschritt begünstigt diesen Prozess, indem er immer mehr Speicherplatz zur Verfügung stellt. Fotografieren und Filmen ist zur Normalität geworden. Der einst flüchtige Moment wird festgehalten und kann jederzeit wiedererlebt werden. Je kostbarer er einmal war, umso stärker wird er durch wiederholten Konsum abgenutzt. Aus der Einmaligkeit des «live» ist ein permanentes «re-live» geworden. Darunter leidet insbesondere die Konzertsituation. Denn das digitale Abbild ist eben nicht identisch mit den Akteuren aus Fleisch und Blut, die auf der Bühne Höchstleistungen vollbringen. Wie stark die Grenzen zwischen beiden jedoch bereits verschwommen sind, greift der belgische Komponist Stefan Prins in seinem Werk Mirror Box Extensions auf.

Prinzip der Spiegeltherapie

Das Stück wurde 2015 bei den Donaueschinger Musiktagen vom Nadar-Ensemble aufgeführt. Sieben Instrumentalisten werden mit Elektronik und Video-Projektionen ergänzt. Es basiert auf der Komposition Mirror Box aus dem Jahr 2014. Darin behandelt Prins auf musikalische Weise das Prinzip der Spiegeltherapie, wie sie von Medizinern verwendet wird. Patienten, die nach einer Amputation unter Phantomschmerzen leiden, legen ihre verbleibende gesunde Gliedmasse in eine mit Spiegeln ausgestattete Kiste. Jede ausgeführte Bewegung wird nun durch das Spiegelbild gedoppelt und es entsteht der optische Eindruck zweier funktionstüchtiger Arme oder Beine. Diese Illusion lässt sich therapeutisch nutzen.

Bei Prins ist Mirror Box der dritte Teil einer Werkreihe mit dem Titel Flesh+Prosthesis, in der Hybride aus Mensch und Technologie geschaffen werden. Die instrumental erzeugten Klänge werden aufgenommen und live-elektronisch transformiert, wobei sich die Musiker als «Fleisch» und die Elektronik als «Prothese» verstehen lassen. Für Mirror Box Extensions wurde dieses Prinzip um Videos erweitert, die vorproduziert und im Konzert auf durchsichtige Leinwände projiziert wurden. Sie zeigen die spielenden Musiker in Lebensgrösse, sodass es schwerfällt, sie vom Original zu unterscheiden. Bild und Abbild bewegen sich, erstarren, verschwinden und erscheinen. Es geht dem Komponisten darum zu zeigen, wie sehr reale und virtuelle Lebenswelt in unserem Alltag bereits verschmolzen sind. Die digitalen Kopien der auf der Bühne agierenden Musiker nennt er «Avatare» und sie spielen auch in anderen seiner Werke eine wichtige Rolle. So etwa in dem Klavierzyklus Piano Hero, dessen dritter Teil bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 2016 uraufgeführt wurde. Hier zeichnet sich jedoch eine gegenläufige Tendenz ab. In Piano Hero I (2011) steuert der Pianist über eine digitale Klaviertastatur kurze Videosequenzen, die auf eine Leinwand projiziert werden und ihn beim Ausführen verschiedener Aktionen im Innenraum eines Konzertflügels zeigen. Ausgebaute Tasten des Klaviers fallen auf die Saiten, es wird gekratzt und geschabt. Sämtliche Klänge kommen aus den Lautsprechern, nur selten dringt das dumpfe Klacken der digitalen Tastatur durch. Im zweiten Teil werden ebenfalls Videos eingesetzt, der Pianist spielt jedoch zusätzlich auf einem akustischen Klavier und tritt so mit seinem Abbild in den Dialog. Verschwunden ist der Avatar schliesslich im dritten Teil des Zyklus, in dem lediglich eine live-elektronische Verarbeitung der Klänge im Inneren des auf der Bühne befindlichen Flügels stattfindet. Hier gibt es kein Video mehr. Der Musiker tritt also aus dem virtuellen Raum in die analoge Welt, er erobert sich die Realität zurück und es bleibt abzuwarten, ob Prins diese Entwicklung in weiteren Werken der Piano Hero-Reihe fortsetzt. In Mirror Box Extensions hingegen findet durch die Projektionen eine Erweiterung auf der digitalen Ebene statt. Stefan Prins schafft eine hybride Konzertsituation aus Musikern und deren Avataren, die unsere zunehmend technologisierte Lebenswirklichkeit reflektiert. Reelle und virtuelle Welt verschwimmen immer mehr, er nennt diesen Zustand «erweiterte Realität».
 

Einfluss des Publikums

Neben dem Verwirrspiel um Bild und Abbild der Musiker tritt ein weiteres Moment der Irritation ein, wenn nach etwa der Hälfte der gut 30-minütigen Komposition einzelne Zuschauer beginnen, mit Tablets die Bühne zu fotografieren. Von ihren Plätzen aus halten sie dafür die Geräte in die Höhe, was bei einigen Konzertbesuchern für Empörung sorgt. Doch schnell wird klar, dass sie Teil der Komposition sind. Der hybride Zustand reicht bis in den Zuschauerraum, und somit ergibt sich eine neue Dimension der Spiegelung. Der Musiker wird von dem Video auf der Leinwand reflektiert und beide vom Tablet der Zuschauer. Stefan Prins greift hier die allgegenwärtigen, auch auf Konzerten Neuer Musik zu sehenden Smartphones und Tablets auf, indem er sie in sein Werk integriert. Spätestens seit John Cages «stillem» Stück 4´33´´ besteht ein Bewusstsein dafür, dass auch vom Komponisten nicht beabsichtigte Klänge, die auf irgendeine Weise im Rahmen einer Aufführung entstehen, integraler Bestandteil der musikalischen Erfahrung sind. Telefone, die in Taschen gesucht werden, Fotos schiessen und im schlimmsten Fall anfangen zu läuten, sind keine Seltenheit. Doch nicht nur produzieren sie Geräusche, die andere Zuschauer als störend empfinden könnten, viel mehr zerstört jedes Abbild der spielenden Musiker die Einmaligkeit der Darbietung. Wie sehr die Konzertsituation dadurch verändert wird, zeigt Stefan Prins in Mirror Box Extensions. So bilden die Tablets der Zuschauer in seiner Komposition sowohl die gemachten Fotos der Bühne als auch vorproduzierte Videosequenzen der Instrumentalisten ab. Das Stück endet mit dem Verschwinden der Musiker auf der Bühne und ihrem Verbleiben auf den Geräten. Zwar ist die Aufführung mit ihrer Einmaligkeit vorbei, doch ein Abbild des Erlebten verbleibt im digitalen Raum, wo es jederzeit abgerufen und konsumiert werden kann. Was Prins im Konzert zeigt, gilt auch ausserhalb. Im Zuge der Digitalisierung sind wir zunehmend mit Computer, Smartphone und Tablet verwachsen. Ein beachtlicher Teil unseres Lebens findet im virtuellen Raum statt. Bei der Fülle an Bildschirmen, die uns alltäglich umgeben und Einblick in andere Welten gewähren, fällt es mitunter schwer, zwischen Fakt und Fiktion zu differenzieren. In Stefan Prins’ Ensemblestück Mirror Box Extensions wird der Zuschauer permanent mit Illusionen konfrontiert. Eben so, wie Patienten bei der Spiegeltherapie über die Funktionalität ihrer Gliedmassen getäuscht werden, fällt es bei Prins schwer, zwischen Bild und Abbild zu differenzieren. Der hybride Raum, den er damit schafft, reflektiert künstlerisch unsere Lebenswirklichkeit, in der wir mit den digitalen Medien so stark interagieren, dass sie zu unseren Prothesen geworden sind.

Christopher Jakobi

… studiert Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zzt. Masterarbeit über die Klangsättigung in der Musik Raphaël Cendos.