Gegen den Strom
Unsere Gesellschaft spricht nur vom Gewinnen. Der Wettkampf, vor zwanzig Jahren noch die Domäne der Sportler, hat alle Lebensbereiche erobert. Im Fernsehen wird alles zum Wettbeweb: Man sucht den Superkoch, das Supermodel, das Superhirn … Die Musik ist da nicht ausgenommen, ganz im Gegenteil. In unzähligen Shows treten junge Sängerinnen und Sänger gegeneinander an. Orchesterstellen und sogar Plätze in gewissen Schulen werden an den Besten einer Ausscheidung vergeben. Ein Profimusiker wird zudem kaum Karriere machen, wenn er nicht hie und da einen ersten Preis gewinnt.
In dieser Ausgabe der Schweizer Musikzeitung betrachten wir aber für einmal die gegenläufige Tendenz dieses weltweiten Phänomens und nehmen das Verlieren unter die Lupe. Selbstverständlich ist es alles andere als lustig, das Gehör zu verlieren – und leider sind viele Musikerinnen und Musiker davon betroffen – und auch der Gedanken an all die über die Jahrhunderte hinweg verlorenen Partituren stimmt traurig. Aber das Verlieren hat auch seine guten Seiten, denn es ist meist mit Veränderung verbunden. Diese Konstante ist in der Musikgeschichte zu verfolgen: Jedes Mal, wenn ein Instrument, eine musikalische Praxis oder ein Stil aufgegeben wurden, geschah das, weil sich etwas Neues durchsetzte, weil neue Horizonte erobert werden wollten. Was dem Vergessen anheim fällt, ist auch nicht unbedingt für immer verloren, gerade was immaterielle Werte betrifft. Ideen, Vorgehensweisen, Wissen und Können verschwinden nicht spurlos wie ein Stein, der ins Meer geworfen wird.
Wenn also die Schweiz den Barockmusiker Albicastro «verliert», so ist seine Musik deswegen noch lange nicht verloren. Und wenn wir nicht mehr gewohnt sind, nach den Gesetzen des Contapunctus floridus zu komponieren oder Gambe zu spielen, so können wir diese Gewohnheit doch jederzeit wieder aufnehmen. Einige machen das ja auch, denn es hat seinen Reiz, gegen den Strom zu schwimmen. Und, Christophe Sturzenegger sagt es sehr treffend, ebenfalls in dieser Nummer: Gerade in der Musik sollte uns ein abweichender Weg nicht davon abhalten, uns auszudrücken.