Was bleibt?
Welche Erinnerung bleibt von klassischen Konzert- oder Opernaufführungen? Ein passionierter Musikliebhaber hat seine Hörerlebnisse in einer Datenbank systematisch erfasst.
Welche Erinnerung bleibt von klassischen Konzert- oder Opernaufführungen? Ein passionierter Musikliebhaber hat seine Hörerlebnisse in einer Datenbank systematisch erfasst.
Musikaufführungen sind vergängliche Ereignisse, oft lagern im Kopf des Zuhörers nur bruchstückhafte, meist optische Erscheinungen, z. B. ein besonders gestenreicher Dirigent oder eine ungewöhnliche Orchesteraufstellung. Akustische Vorgänge im Gedächtnis zu halten ist schwierig, mit Übung geht’s besser, aber der Eindruck bleibt flüchtig. Der Wunsch, das Hörerlebnis der erlebten Aufführungen durch einen, wenn auch nur wenig aussagekräftigen Hinweis gewissermassen zu verewigen, hat mich bewogen, bei jeder Aufführung eines klassischen Musikstückes, die ich erleben konnte, Zeit, Ort und Interpreten in der Partitur einzutragen. In Ergänzung dieser Rohdaten findet man in meinen Partituren auch detaillierte Angaben, z. B. über Wiederholungen, Kürzungen (kommen heute nur noch selten vor), dynamische, agogische, metrische Besonderheiten. Die Zeitmessung der einzelnen Sätze habe ich ebenfalls eingetragen, sie ist letztlich das einzige «harte» Kriterium, das eine Aufführung objektiv kennzeichnet. Mit der Zeit ist so ein grosser Datenberg entstanden, den ich mit dem Mittel moderner Computertechnik greif- und analysierbar machen wollte. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen ist es gelungen, durch komplexe Programmierung¹ als File-/Server-Lösung für Windows 7 und Microsoft Access 2010 eine Datenbank mit überaus flexiblen Abfragemöglichkeiten zu erstellen. Über die Website almamusica.org kann auf die Daten zugegriffen werden.
Was ist gespeichert?
Vorerst bedarf der Sammelmechanismus eines Kommentars. Es ist evident, dass die dokumentierten Aufführungen, weil immer nur von einer einzigen Person verfolgt, auf einer persönlich bestimmten Selektion beruhen. Abwesenheit, Arbeitsbelastung, Zeitmangel aus familiären und beruflichen Gründen, nicht zuletzt auch gewisse persönliche Vorlieben für Komponisten oder Werkgattungen haben den Dokumentationsprozess weitgehend beeinflusst. Die frühesten Einträge stammen von 1953/54; bis heute sind ganz unterschiedliche Jahres-Aufführungszahlen vorgekommen (so etwa 43 Einträge 1977 gegen 525 im Jahr 1954). Da immer noch einige Werke nicht in die Datenbank aufgenommen sind, (vor allem Kammermusik), gibt es zusätzliche Lücken in der Dokumentation. Eine erste Übersicht² zeigt die wesentlichen Parameter und ihre Anzahl:
Eine dokumentierte Aufführung enthält also mindestens folgende Parameter: Datum (kann bei Schallplatten/CD/Radio-Aufnahmen oft nicht ermittelt werden); Art der Aufführung (live, ab CD, Radio-Übertragung); Ort (Land/Nation); Interpreten (aufgeschlüsselt nach Funktion und mit Angabe von allenfalls charakterisierten Rollen in Oper und Oratorium).
Ergebnisse
Die erste Tabelle gibt Aufschluss über die Art des Hörerlebnisses:
Auffallend ist der verhältnismässig geringe Anteil von Live-Ereignissen und CD- oder LP-Erfahrungen. Im Gegensatz dazu sieht man ein massives Überwiegen von Rundfunk-Produktionen (sowohl direkt wie auch zu einem späteren Zeitpunkt).
Die folgenden Tabellen zeigen jeweils nur die am häufigsten vorkommenden Ereignisse, da die «am seltensten vorkommenden» Hinweise kaum aussagekräftig sind.
Auffallend ist die absolut und relativ hohe Frequenz von Opern-Aufführungen, besonders von Richard Wagner, die sich durch den Besuch namhafter Bühnen (regelmässig in Bayreuth von 1985–2015, Wien, Zürich) erklären lässt. Die am häufigsten gehörten Opern sind:³
Über die Gattungsgrenzen hinweg wurden am häufigsten gehört:
Die Häufigkeit von Werken des 20. Jahrhunderts:
Ein interessantes Kapitel sind Analysen zur geografischen Verteilung der Aufführungen: Ausgehend von einem Gesamt-Mittelwert erscheinen so die Abweichungen (häufiger/seltener), am interessantesten für Komponisten: Nicht unerwartet bestehen für die Wiener Klassik (Haydn, Mozart, Beethoven) keine wesentlichen geografischen Unterschiede (mit Ausnahme einer deutlich erhöhten Beliebtheit für Haydn in England). Für Bruckner finden wir ein deutliches Übergewicht in Österreich, Deutschland und geringe Zahlen in USA, England und Frankreich, Brahms ist in allen Ländern dem Durchschnitt entsprechend vertreten mit Ausnahme einer signifikanten Häufung in der Schweiz. Die Zusammenstellung der Resultate für Komponisten des 20. Jahrhunderts (klassische Moderne) ergibt z. B. für Schönberg wenig Abweichungen, ausser einer erstaunlichen Häufung in Frankreich, für Messiaen einen Vorsprung in England und deutlich in Frankreich. Bemerkenswert ist der «Fall Hindemith» mit teilweise grossen Rückständen in England und USA, kompensiert durch massive Häufung in Deutschland und, etwas weniger ausgeprägt, in der Schweiz.
Fazit
Die Ergebnisse sind wohl für einen «mittleren Klassikliebhaber» mit einer Vorliebe für Oper einigermassen repräsentativ. Leider gibt es in der mir bekannten Literatur seit der Einstellung des Konzert-Almanachs, der vom Heel-Verlag (Königswinter) von 1981–2002 jedes Jahr einen vollständigen Überblick über die Programme klassischer Musik in deutschen Sprachraum anbot, keine umfassende Darstellung von Konzert- und/oder Opernaufführungen mehr.(4) Dank der aufwendigen Programmierung ist unsere Datenbank vielseitig verwendbar und enthält Informationen, die Anlass zum Nachdenken oder sich wundern sein können.
Anmerkungen
¹ Ich danke Herrn René Panzeri von der CreLog GmbH, Dietikon, für die sorgfältige Ausarbeitung des Projektes und für seine unbeirrbare Unterstützung meines Vorhabens.
² Alle Zahlenangaben beziehen sich auf das Datum 1. Juli 2016.
³ In einer neuen Arbeit werden Aufführungsstatistik, Regieästhetik und Publikumsverhalten anhand von aktuellen Opernproduktionen weltweit, mit Schwergewicht Deutschland behandelt. Sven Friedrich: Das phantasmagorische Kunstwerk – Tendenzen und Perspektiven der Opernregie, in: Wagnerspektrum 12, I 2016, S. 161-197.
4 Unter http://www.univie.ac.at/nsw/sachgruppen/780.html ist eine Übersicht über sämtliche Spielarten von Referenzwerken zum (nicht nur) klassischen Musikbetrieb einsehbar. Man findet über 280 Einträge, vor allem Werkverzeichnisse, Lexika, Kataloge, Handbücher.
Autor
Rudolf P. Baumann, in einem musikalischen Elternhaus aufgewachsen, hat dank Klavierstunden und regelmässige Konzertbesuche schon früh die Welt der klassischen Musik kennengelernt. Prägend war der Unterricht bei Armin Schibler, Musiklehrer am Literargymnasium Zürich. Schon als Schüler begann er, die besuchten Aufführungen zu dokumentieren. Als Dr. med. leitete er von 1969 bis 2001 das Institut für pathologische Anatomie in Neuenburg.