Erbe, Vielfalt und Zukunft
Am 20. November 2015 feierte der Verband Musikschulen Schweiz seinen 40. Geburtstag in Biel. Festrednerin war Helena Maffli, Präsidentin der Europäischen Musikschulunion. Sie hat der SMZ die Erlaubnis erteilt, die Rede hier im Wortlaut zu veröffentlichen. Herzlichen Dank!
Am 20. November 2015 feierte der Verband Musikschulen Schweiz seinen 40. Geburtstag in Biel. Festrednerin war Helena Maffli, Präsidentin der Europäischen Musikschulunion. Sie hat der SMZ die Erlaubnis erteilt, die Rede hier im Wortlaut zu veröffentlichen. Herzlichen Dank!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Très chers amis,
Es freut mich ausserordentlich, dass wir heute den 40. Geburtstag des Verbands Musikschulen Schweiz zusammen feiern dürfen, herzlichen Dank für die Einladung! Es ist schon eine besondere Ehre, Gastrednerin dieser Feier zu sein, und diese Aufgabe habe ich sehr ernst genommen. Zum Thema habe ich «Erbe, Vielfalt und Zukunft» gewählt. Dies ist keine originelle Erfindung sondern eine pure Leihgabe – aber es lohnt sich doch, die guten Ideen zu kopieren, oder was meinen Sie?
Dass man in Europa überhaupt zu der guten Idee kam, einen nationalen Musikschulverband zu gründen, ist nicht sehr lange her. Dagegen weiss jeder von uns, dass die Gründung der Konservatorien im Sinne von öffentlichen Einrichtungen der musikalischen Bildung schon über 200 Jahre zurückliegt. Le Conservatoire National Supérieur de Paris kam zuerst, 1795, und in den nachfolgenden Jahrzehnten ging die Gründungsbewegung weiter in die meisten Zentren Europas. In der Schweiz wurde als Erstes Le Conservatoire de Musique de Genève1835 gegründet und in den vierzig folgenden Jahren Bern, Lausanne, Basel, Winterthur und Zürich. In diesen Schulen konnte man generell im gleichen Haus von der Kindheit bis zur Vollendung der Berufsstudien lernen: das Kontinuum der musikalischen Bildung war eine Selbstverständlichkeit.
Die Jugendmusikschulen dagegen sind eine Erscheinung der Nachkriegszeit. Die grossen soziokulturellen Umwandlungen, das neue Identitätsbewusstsein und der allgemeine Wiederaufbau nach dem Krieg begünstigten auch die progressive Entstehung einer viel breiteren musikalischen Bildung als früher. In diesem Zusammenhang ist es auch kein Zufall, dass gerade Frankreich und Deutschland als erste schon in den fünfziger Jahren einen nationalen Musikschulverband gründeten.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren nahm die Zahl der Musikschulen rasant zu, sowohl in der Schweiz als auch überall in Westeuropa. Zu diesen Zeiten wurden auch die meisten Musikschulverbände Westeuropas gegründet.
Osteuropa dagegen entwickelte nach dem sowjetischen Vorbild ein anderes Modell, mit zentralisierten Musikschulen und mit dem Ziel eher der Begabten- als der Breitenförderung. Während des kalten Krieges waren die West-Ost-Kontakte äusserst begrenzt, aber nach dem Berliner Mauerfall haben auch die meisten osteuropäischen Länder Musikschulverbände gegründet.
Die Verbindungen zwischen dem Verband Musikschulen Schweiz (VMS) und der Europäischen Musikschulunion (EMU) sind eng und standhaft, und das seit der Gründung der beiden Organisationen, EMU 1973 und VMS 2 Jahre später. Für diese Treue über Jahrzehnte hinweg und für die vielen guten Beispiele seitens des VMS sind wir in der EMU sehr dankbar. Ich komme zurück auf dieses Thema im dritten Teil meiner Festrede.
Héritage, Diversité, Futur. En Suisse, la diversité fait partie intégrante de l’héritage comme dans peu d’autres pays en Europe. Plus de 50% des Suisses ont au moins un grand-parent né à l’étranger, si bien que la diversité se situe dans l’ADN de ce peuple et (je cite) « le multiculturel s’est inscrit dans la réalité suisse au point qu’il a intégré notre subconscient », fin de citation du Neuchâtelois Gabriel de Montmollin. Celui ou celle – comme moi-même – qui vient d’un pays centraliste, met quelques années rien que pour essayer de comprendre ce pays où les us et les coutumes, les dialectes, les menus, l’architecture et tout le reste changent au fur et à mesure que défilent les paysages qu’on admire depuis les trains des fameux chemins de fers suisses !
Mais encore plus étonnant pour moi était de découvrir que dans ce petit pays les façons mêmes de penser l’enseignement ainsi que les traditions et les pratiques pédagogiques sont tout aussi variées, que ce soit à l’école publique ou dans les écoles de musique. Cependant, je dois vous avouer honnêtement que je n’en avais pas vraiment pris conscience dans mes fonctions au Conservatoire de Lausanne, avant de commencer à côtoyer des collègues de toute la Suisse grâce à mon expérience au comité et aux travaux de l’ASEM. Peu à peu, j’ai alors constaté que la Suisse en tant que telle et la Suisse pédagogique sont une mini-Europe, et rien ne m’a plus étonné dans la diversité des réseaux européens.
« L’unité dans la diversité » est à la fois la belle devise européenne, l’idéal de la Suisse et la source de la richesse de notre culture et de notre musique. Mais c’est un contexte tellement exigeant ! Assumer concrètement cette diversité démographique, politique, linguistique et pédagogique est un travail quotidien qui demande beaucoup de volonté et d’efforts. L’ASEM offre une plateforme nationale extraordinaire pour des rencontres et des débats qui peuvent être vifs, mais jamais destructifs. A travers des décennies, il a toujours été possible au sein de l’ASEM de trouver des solutions aux défis des plus divers parce que finalement tout le monde a fait le choix de travailler ensemble à long terme. Cela demande de la patience. J’ai entendu dire qu’en Suisse les moulins tournent lentement (« In der Schweiz mahlen die Mühlen langsam »). Pour moi, le sens de cette phrase un peu moqueuse est positif. Je crois que la Suisse est toujours cette « nation de volonté » (Willensnation) qui est préparée à rencontrer les défis toujours grandissant du monde actuel et capable de trouver des réponses.
« Plus vous saurez regarder loin dans le passé, plus vous verrez loin dans le futur »/« Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen » (Winston Churchill). Das 40-jährige Dasein des Verbandes Musikschulen Schweiz enthält viele Aspekte und Problemlösungen die man aus der europäischen Perspektive bewundern kann. Ich sehe folgende wertvolle Elemente:
- eine starke Vernetzung mit dem gesamten Schweizer Musiksektor, worin der VMS eine proaktive und vorausgehende Rolle erworben hat
- ein geduldiger und pragmatischer Aufbau der Verbandsorganisation (Erneuerungen ohne Revolutionen)
- die einzigartige Pensionskasse Musik und Bildung, ein geniales Businessmodell, und das seit 1978
- das Forum Musikalische Bildung, eine nachhaltig gewordene nationale Plattform
- -die treibende Kraft vom VMS in der politischen Arbeit, ich denke vor allem an den Werdegang der Volksinitiative Jugend und Musik und an die laufende Umsetzung des Verfassungsartikels, und – last but not least :
- die dauerhafte internationale Vernetzung des VMS. Sie sollen wissen, dass das 7. Europäische Jugendmusikfestival der EMU 2002 in der Schweiz – eine Riesenherausforderung des VMS – für die europäischen Teilnehmenden zu einem der allerbesten Festivals wurde, dank der Betreuung jeder einzelnen Gruppe von einer Musikschule in einer der Regionen der Schweiz. Da wurde die Schweizer Vielfalt mit all ihren Dimensionen konkret und unvergesslich miterlebt.
Auf der gemeinsamen Reise in die Zukunft ist es heute wichtiger denn je, nach weltweiten Wegweisern zu suchen. Sollte es eine Hoheit über nationale und internationale Bildungsorganisationen geben, kann dies nur die Unesco sein, und hier möchte ich an die zweite Unesco-Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung (« arts education ») in Seoul 2010 erinnern. Die Seoul Agenda, das Ergebnis dieser Konferenz, wurde von allen Unesco-Mitgliedstaaten in der ganzen Welt einstimmig verabschiedet. Sie ist ein konkreter Aktionsplan mit praktischen Strategien und Handlungsempfehlungen und sie besteht aus drei Zielsetzungen:
1.Den Zugang zu künstlerischer und kultureller Bildung als grundlegenden und nachhaltigen Bestandteil einer hochwertigen Erneueurung von Bildung sicherstellen.
2.Die Qualität der Konzeption und Durchführung von künstlerischen und kulturellen Bildungsprogrammen sichern.
3.Prinzipien und Praktiken dieser Bildung anwenden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und kulturellen Herausforderungen beizutragen.
Diese drei Ziele sind schwer trennbar und stehen in einer engen Wechselwirkung. Mit den zwei ersten Zielen, Zugang und Qualität, setzen sich alle mir bekannten Musikschulen in Europa fast ständig auseinander. Dagegen bleibt das dritte Ziel, soziale und kulturelle Herausforderungen, viel ferner von den Debatten über die Zukunft der musikalischen Bildung und der Musikschulen. Gründe dafür kann man erraten. Dennoch wächst das generelle Bewusstsein unserer ganzheitlichen Bildungsverantwortung in der Welt der Globalisierung, Migrationen und Unsicherheit. Keiner von uns ist zu klein oder zu gross, dieses dritte Ziel auf seiner Weise und an seiner Stelle umzusetzen, sei es auf der individuellen, schulischen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene.
Die Schweiz steht ganz vorne in Europa in vielen musikalischen Angelegenheiten: die Mitgliederzahl des Schweizer Musikrates, die Zahl der Studierenden in den Musikhochschulen und der Lernenden in den Musikschulen (da sind wir Nr.2 in Europa), der Wachstum der Konzertindustrie, die Zahl der Amateurorchester und Chöre usw. Deswegen ist unsere Verantwortung vielleicht noch grösser, alles dafür einzusetzen, alle zusammen, damit die Reise in die Zukunft in die gute und sichere Richtung geht.
40 Jahre ist ein wunderbares Alter: Man hat Erfahrung ohne zuviel Gewicht der Vergangenheit und es bleibt viel zu lernen und zu erleben. Ich gratuliere dem Verband Musikschulen Schweiz mit allen früheren und heutigen Mitwirkenden von ganzem Herzen und wünsche viel Kraft, Freude und Erfolg für die Zukunft.
Vorausgehen – verbinden – unterstützen / anticiper – unir – soutenir : quelle belle vision, qu’elle vous porte toujours plus loin, chers amis !
Überblick über die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des VMS
Der Artikel Ein «kleines» VMS-Jubiläum aus der Feder des VMS ist auf den Unterseiten des Verbandes Musikschulen Schweiz abrufbar. Bitte klicken Sie hier.
Bericht über die Jubiläumsfeier in Biel am 20. November 2015
Das PDF des Berichts aus der SMZ 12/2015, S. 29, können Sie hier herunterladen.
- Foto: Heiner Grieder
Auch die VMS-Präsidentin und ehemalige VMS-Präsidenten wurden vom musikalischen Witz des Duos Calva umgarnt:
Hector Herzig (1. von links)
Hans Brupbacher (2. von links)
Willi Renggli (1. von rechts)
Christine Bouvard, amtierende VMS-Präsidentin (2. von rechts)
- Foto: Heiner Grieder