Welcome home

Die Schweiz war für ihn schon immer Mitteleuropa, genauso wie sein Geburtsland Österreich. Der Komponist Georg Friedrich Haas im Gespräch.

In einem kleinen Ort in Vorarlberg, dem westlichsten Bundesland Österreichs, hat Georg Friedrich Haas seine Kindheit verbracht. Studiert man die Länderumrisse Mitteleuropas, könnte man meinen, dass Vorarlberg und Tirol wie der Rüssel eines Elefanten bis in die Schweiz hineinragen, zwischen Deutschland und Italien, wobei Vorarlberg die Rüsselspitze darstellt. Dieses Bild mag seltsam anmuten, und doch bietet es sich als Analogie für die Situierung dieses westlichen Vorarlberger Ortes namens Tschagguns an: Der Rüssel ist ein flexibles, mit einem sensiblen Tastgefühl begabtes Organ, das dem Elefanten zur sozialen Interaktion mit den anderen Elefanten dient. – In Tschagguns wird eine alemannische Sprache gesprochen, während der überwiegende Teil Österreichs dem bairischen Sprachraum angehört, zudem liegt der Ort direkt an der über den Gebirgskämmen des Rätikon verlaufenden Landesgrenze, und drittens verläuft die Wasserscheide zwischen den Stromgebieten des Rheins und der Donau östlich dieses Ortes. Tschagguns liegt also im Einzugsgebiet des Rheins, während Österreich weitgehend dem der Donau zugehörig ist. Daher lässt sich auch erklären, weshalb die Himmelsrichtung «Osten» in unserem Zusammenhang nicht die Bedeutung Entfernung und kulturelle Andersartigkeit impliziert. So meinte Georg Friedrich Haas auf die Frage hin, ob er zu einem Gespräch zur SMZ-Ausgabe zum Thema «Osten» bereit wäre, dass er aus umgekehrter Perspektive beim Thema «Westen» niemals an die Schweiz, wohl aber an Frankreich, Irland, die USA und Kanada gedacht hätte. Und er fügte hinzu: «Die Schweiz war für mich immer Mitteleuropa. Genauso wie Österreich.»

«Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, dass die Schweiz etwas vollkommen anderes ist. Es gibt natürlich gewisse Unterschiede. Damals schon, wenn wir über die Grenze in die Schweiz fuhren, fiel mir auf, dass die Ortschaften an den Hängen viel höher hinaufreichen als in Österreich.» In unserer Unterhaltung fallen Worte wie «Wachstum» und «Wohlstand», Begriffe, die seit dem 9. Februar für vieles herhalten müssen. Auch wenn Georg Friedrich Haas seit dem vergangenen Sommer nicht mehr in Basel lebt, wo er von 2005 bis 2013 als Kompositionsprofessor wirkte, ist er ein wachsamer Beobachter des hiesigen politischen Geschehens. Im September des vergangenen Jahres hat er an der New Yorker Columbia University in der Nachfolge Tristan Murails eine Kompositionsprofessur angenommen. Es sind also nicht mehr nur acht Kilometer Entfernung zur Schweiz, sondern weit über 6000. Es war zwar nicht geplant, über Politik zu sprechen, doch das Thema drängte sich uns geradezu auf. Dass sich die Folgen des Abstimmungsergebnisses nun ausgerechnet bei den Erasmus-Geldern zuerst bemerkbar machen, bedauert Haas zutiefst. «Vermutlich haben nur ganz wenige jener Schweizerinnen und Schweizer, die vom Erasmus-Projekt persönlich betroffen sind, bei dieser Abstimmung mit ‹Ja› gestimmt. Das, was mit am dringendsten notwendig ist, nämlich die Förderung internationaler Beziehungen auf hohem intellektuellem Niveau, wird als erstes abgestellt. Man sieht, wie falsch die Werkzeuge greifen.»

«Für so etwas gibt es keine musikalische Sprache»

Aus seinen Worten hört man heraus, dass sein Leben als Mensch mit dem des Musikers eine untrennbare Einheit bildet. Wir kommen auf in vain («vergeblich») zu sprechen, ein einstündiges Werk für 24 Instrumente, das Simon Rattle als «eines der grossen Meisterwerke des 21. Jahrhunderts» bezeichnet hat. Mit dieser Musik reagierte Haas auf das Erstarken der politischen Rechten in Österreich zum Ende des 20. Jahrhunderts. 1999 kam es dort im Zuge der Nationalratswahlen zur Regierungsbeteiligung einer Partei (FPÖ), deren Vorsitzender Haider bereits seit über einem Jahrzehnt aufgrund mitunter extrem rechtspopulistischer Parolen und eines augenzwinkernden, unsauberen Umgangs mit der Nazivergangenheit für heftigste Kritik im In- und Ausland gesorgt hatte. Alle damaligen EU-Mitgliedstaaten, zudem Kanada, Israel und Norwegen setzten ihre politischen Kontakte mit der schwarz-blauen Regierung Österreichs vorübergehend auf Sparflamme. Derartige Massnahmen, die als «Sanktionen» bezeichnet wurden, richteten sich selbstverständlich nicht gegen Österreich als Ganzes, sondern blieben auf den Umgang der Regierungen untereinander beschränkt. Paradoxerweise bewirkten sie jedoch, dass sich plötzlich viele mit der schwarz-blauen Koalition solidarisierten, die ihr gegenüber zuvor sehr skeptisch eingestellt waren. Der Komponist bemerkt dazu, Haider habe die EU vermutlich vorsätzlich provoziert. Der Politiker habe diese Sanktionen, diesen Druck von aussen auf Österreich gebraucht, um einen Solidarisierungseffekt im Inneren des Staates zu erreichen. Klingt hier eine Warnung hinsichtlich der diplomatischen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz an? Vielleicht. Jedenfalls handelt es sich dabei keineswegs um die Verkündung schulmeisterlicher Gewissheiten oder gar politischer Ideologien, sondern um seismografische Beobachtungen eines sensiblen Musikers, der sein kompositorisches Schaffen niemals direkt in den Dienst der Politik stellen würde und der das Privileg hat, aus der Freiheit und Unabhängigkeit eines Intellektuellen heraus öffentlich Stellung zu beziehen.

«Ich bin ein politisch aktiv lebender Mensch. Ich habe dementsprechend auch versucht, mein politisches Bewusstsein in die Kunst einzubringen, habe aber mehr und mehr verstanden, dass das nicht funktioniert und ich glaube, bei in vain ist dieser Kontrast besonders stark: Das Thema von in vain ist ja nicht konkret die Regierungsbeteiligung einer österreichischen Partei mit einer problematischen Beziehung zur Nazi-Vergangenheit. Daraus kann man keine Musik machen. Man kann einen Text schreiben, man kann protestieren, aber man kann keine Musik machen. Musik mache – nein, machte ich sozusagen über die Verzweiflung darüber, dass Dinge, die man für überwunden geglaubt hat, wieder da sind. Die musikalische Katastrophe von in vain ist die Tatsache, dass es eine Reprise gibt: Am Ende des Stückes nach einem beinahe eine Stunde lang andauernden Prozess ist man wieder dort, wo man am Anfang war. Von meinem politischen Standpunkt her würde ich kritisieren, dass das musikalische Material, das ich überwinden möchte und das dann doch wiederkehrt, viel zu schön ist, um als Symbol für diese widerwärtigen politischen Ereignisse geeignet zu sein. Für die Leute, die damals an die Macht gekommen waren, wäre ja sogar eine Generalpause noch zu schön! Für so etwas gibt es keine musikalische Sprache. Es sind seit der Arbeit an diesem Werk dreizehn Jahre vergangen. Ich habe danach aufgehört, aus einem politischen Bewusstsein heraus konkret Musik zu machen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit politischer Partizipation stark eingeschränkt ist, wenn man im Ausland lebt.»

Blick auf die Schweiz

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Doch blickt Haas mit Freude auf seine Schweizer Jahre zurück: «Die Basler Musikhochschule ist ein wunderbarer Ort», schwärmt er. «Die intensive Zusammenarbeit zwischen Instrumentalausbildung und Aufführungspraxis neuer und neuster Musik ist einzigartig. Überhaupt fasziniert mich, in welcher Weise die Kunst des 20. Jahrhunderts in der Schweiz Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins ist. Sehen Sie sich die Banknoten an: Arthur Honegger! Stellen Sie sich vor, auf einer österreichischen Banknote wäre Gustav Mahler abgebildet.» Er lacht und bemerkt: «Ich will ja gar nicht so weit gehen, mir Anton Webern zu wünschen.»

Wir kommen wieder auf unser eigentliches Thema: Spätestens nach seiner Übersiedlung in die Schweiz sei ihm ein fundamentaler Unterschied zu Österreich aufgefallen, nämlich der, ob ein Land eine jahrhundertelange demokratische Tradition hat oder eine jahrhundertelange monarchistische. Der Komponist spricht von den divergierenden Blickrichtungen der beiden Alpenländer und der Verbindung Österreichs in den Osten, nach Ungarn, Tschechien, Slowenien. Österreich hätte 1918 die Chance zu einer Vielsprachigkeit nach Schweizer Vorbild gehabt, sagt der Komponist. Aber man hatte sich damals entschlossen, «Deutsch-Österreich» zu sein und jene, die eine andere Muttersprache hatten, zur Assimilation zu nötigen. Dass sich in Österreich eine zur Schweiz analoge Vielsprachigkeit nicht durchgesetzt hat, sei «eine Tragödie innerhalb der österreichischen Geschichte.»

Seit einigen Monaten lebt und arbeitet Georg Friedrich Haas nun in New York, doch er ist immer wieder unterwegs in Richtung «Osten». Eine Anekdote voller Hintersinn: «Als ich mit meinem Arbeitsvisum erstmals aus den USA ausgereist und dann wieder eingereist bin, gab mir der immigration officer bei der Kontrolle am Flughafen das Dokument mit den Worten zurück: Welcome home. Stellen Sie sich das in der Schweiz vor!» Nachdenkliche Stille. Erst vor wenigen Tagen war er wieder in Europa, und zwar aus Anlass der Uraufführung seines concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und Orchester, interpretiert von den weit über die Schweiz hinaus bekannten Musikerinnen und Musikern des hornroh modern alphornquartet und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Susanna Mälkki. Das Werk lotet auf faszinierende Weise das Spannungsverhältnis zwischen den Intonationsmöglichkeiten der Alphörner und denen eines grossen Sinfonieorchesters aus. Assoziationen zur Schweiz, so Haas, habe er in diesem Zusammenhang nicht gehabt. «Ich liebe die Intonationsmöglichkeiten dieser Instrumente, die sozusagen als Lehrmeister der Intonation in Obertonharmonik eingesetzt werden. Dass Instrumente mit einer Konnotation ‹unterhalb der Hochkultur› ausgerechnet im traditionsbelasteten Herkulessaal in München und später im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben, freut mich.»
 


Georg Friedrich Haas’ Musik hören

Radio
Die mitgeschnittene Münchner Uraufführung des concerto grosso Nr. 1 wird am Dienstag, den 8. April 2014 um 20.03 Uhr auf BR-KLASSIK gesendet.

 

Konzert
27. August 2014, 19 Uhr, Grange aux Concerts Cernier, im Rahmen des Schweizerischen Tonkünstlerfestes
Georg Friedrich Haas: Doppelkonzert für Akkordeon, Viola und Kammerensemble; In nomine für Ensemble
Katharina Rosenberger: shift für Ensemble
Fanny Vicens (Akkordeon), Anna Spina (Viola), Nouvel Ensemble Contemporain, Pierre-Alain Monot

 

22./23. April 2015, Tonhalle Zürich, Grosser Saal
Georg Friedrich Haas: concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und Orchester, Schweizer Erstaufführung
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 6

Tonhalle-Orchester Zürich, Kent Nagano (Leitung), HORNROH modern alphorn quartet