Von Zwingli bis SMPV
Eine kleine Geschichte der öffentlichen Musikkultur und der freischaffenden Musikpädagogen am Beispiel Zürichs. Trennlinien zwischen Amateuren und Profis sind dabei nicht zu ziehen.
Eine kleine Geschichte der öffentlichen Musikkultur und der freischaffenden Musikpädagogen am Beispiel Zürichs. Trennlinien zwischen Amateuren und Profis sind dabei nicht zu ziehen.
Eine höhere Musikkultur hat in der Schweiz nicht erst im 20. Jahrhundert begonnen. In früheren Jahrhunderten sind zwar mit Ausnahme des am Hofe Kaiser Maximilians wirkenden Ludwig Senfl wenig leuchtende Komponistennamen zu verzeichnen, es existierte jedoch ein reges Musikleben. Mit Nachdruck muss auch der Legende entgegengetreten werden, mit der Reformation von Zwingli und Calvin habe sich ein Raureif über das Musikleben der reformierten Orte gelegt. Das Gegenteil ist der Fall. Huldrych Zwingli sang hervorragend und spielte nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen folgende Instrumente: «Lauten, Harpfen, Geigen, Pfeifen, Rabögli, Schwäglen, Trummscheit, Hackbret, Zinken, Waldhorn». (1) Er komponierte kunstvolle polyfone Gesänge und traf sich im privaten Kreis mit anderen Musikfreunden, zum Beispiel mit dem Pfarrer Leo Jud, regelmässig zu gemeinsamem Singen am Abend.
Psalmbücher aus Basel und Konstanz kursierten in Zürich zur Privaterbauung, und bald traten Gesangbücher aus der einheimischen Druckerei Froschauer hinzu. Musikkollegien bildeten sich, in welchen eifrig gesungen, Instrumente gespielt und für die so genannten «Quartalsbötter» geprobt wurde. In Zürich existierten drei, deren Gründungsjahr im Dunkeln liegt. Sie schlossen sich 1812 zur Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich zusammen, die Konzerte mit bunten Programmen, Oratorien, Opern und Singspiele zur Aufführung brachte.
Schulmeister, Pfarrherren, Komponisten
Was hat das alles mit dem freischaffenden Musikpädagogen zu tun? Sehr viel, denn eine so eifrige Musikpflege bedarf der Ausbildung, die meist in den Händen von Schulmeistern, gelegentlich auch von musikliebenden Pfarrherren lag, wobei die Grenze zwischen professionellen Musikern und Amateuren schwierig zu ziehen ist. Zwingli gründete in Zürich bereits 1528 die erste Musikschule und berief dazu als Leiter einen Musiker namens Hans Vogler. Heinrich Bullingers Schulordnung für die Lateinschule von 1532 forderte das Singen von carmina an drei Tagen pro Woche. Chor- und Instrumentaleinlagen in Schul- und Volksdramen sind u. a. für Zwingli bezeugt. (2) Zwei Lehrbücher für den Gesangsunterricht von Johannes Frisius wurden bei Froschauer 1552 und 1554 gedruckt.
Was aber geschah im Gottesdienst? Winterthur und Stein am Rhein führten bereits 1559 den Kirchengesang ohne Instrumentalbegleitung wieder ein; der Rat der Stadt Zürich zögerte länger, bis er 1598 den entsprechenden Beschluss fasste. Neben dem Psalmgesang, dessen 125 Melodien von Guillaume Franc, Loys Bourgeois und Pierre Davantès stammen, gab es im ersten offiziellen Zürcher Gesangbuch von 1598, dem später sogenannten Lobwasser, die «Gebräuchlichen Psalmen» (die seit Jahrzehnten in Zürich gedruckten Psalmlieder). Dazu kamen dann immer weitere geistliche Gesänge, zunächst einstimmig, bald aber vierstimmig gesetzt, wobei Bourgeois den Cantus firmus wie damals üblich in den Tenor setzte, die Choralmelodie später jedoch durch Tausch von Sopran und Tenor nach oben verlegt wurde. Fassbar wird dieser vierstimmige homofone Satz in der dritten Auflage des Zürcher Gesangbuches von 1641. Diese Art des Kirchgesangs hielt sich als Ersatz der Instrumentalbegleitung zäh, Reste davon bis in unsere Tage. Denn ein Teil der Lieder wird in den schweizerischen Kirchengesangbüchern immer noch vierstimmig gedruckt. Das vierstimmige Singen wurde in allen Schulen und im kirchlichen Unterricht regelmässig geübt.
Das Repertoire, das in den drei Stadtzürcher Musikkollegien gepflegt wurde, lässt sich durch aufbewahrte Notenbestände mindestens für das 18. Jahrhundert erschliessen. Es war durchaus zeitgemäss und anspruchsvoll. Neben viel Händel sind Grauns Passionsmusik, Hiller, Naumann, Rolle und früh auch Sinfonien und Messen von Joseph Haydn zu nennen. Daneben traten auch Schweizer Komponisten: Johann Caspar Bachofen (1695–1753) war theologisch bis zum Verbi Divini Minister ausgebildet, übte aber den Pfarrberuf nie aus, sondern widmete sich als Autodidakt der Musik und hinterliess einprägsame, einfache ein- bis dreistimmige Lieder mit Generalbass. Der Pfarrer Johannes Schmidlin (1722–1772) gründete und leitete das Musikkollegium in Wetzikon, Zürcher Oberland. Er unterrichtete den in Seegräben geborenen Johann Heinrich Egli (1742–1810) der von 1760 an in Zürich als gesuchter Klavier- und Gesangslehrer wirkte und gefühlvolle Lieder komponierte. Dessen acht Jahre jüngerer Schüler Johann Jakob Walder wirkte im gleichen Sinne und vertonte erbauliche geistliche Texte von Christian Fürchtegott Gellert, die 1791 im Druck erschienen und sehr beliebt wurden.
Musikpädagogen und reisende Virtuosen
Musikpädagogen gab es natürlich zuhauf. Die Genannten bilden, als Komponisten hervorgetreten, nur die Spitze eines Eisbergs. Ein Nichtkomponist sei erwähnt, nämlich der mit Goethe befreundete Philipp Christoph Kayser, bekannt als «Kunscht-Kayser» aus Stäfa am Zürichsee, 1755 geboren, der schon als 15-Jähriger in Frankfurt am Main und fünf Jahre später dann in Zürich sein Brot mit Klavierstunden verdiente. Neben den eingesessenen Musikpädagogen gab es noch die reisenden Virtuosen; zum Beispiel kam die Familie Mozart im Jahre 1766 nach Zürich, wo der zehnjährige Wolfgangerl hinten auf eine Menukarte des Hotels Storchen einen Marsch notierte. Die Virtuosen tauchten wie Sternschnuppen am Zürcher Musikhimmel auf und liessen sich gelegentlich dort auch nieder wie zum Beispiel Anton Liste, 1772 in Hildesheim geboren. Als Dirigent wurde er 1804 von den Musikkollegien für ihr Orchester nach Zürich berufen, wo er bis 1834 dem Zürcher Musikleben einen unerhörten Aufschwung verlieh und das Niveau des hauptsächlich von Amateuren bestückten Orchesters bedeutend hob. Er gründete den Liste-Gesangverein, der in Konkurrenz zu Hans Georg Nägelis Chören trat und mehrmals Haydns Schöpfung und Jahreszeiten sowie Händels Messias und weitere Oratorien vortrug. Liste galt auch als bedeutender Klaviervirtuose, dessen Klavierwerke lange Zeit geschätzt blieben.
Mit dem Namen Nägeli (1773–1836) ist der wichtigste Repräsentant der Musikpädagogen genannt. Er wuchs im musikliebenden Wetzikon auf und leitete bereits mit zehn Jahren dessen Musikkollegium. Am Herzen lag ihm vor allem das Chorwesen. 1805 gründete er das Musikinstitut mit seinem Gemischten Chor, Männerchor und Kinderchor. 1810 erschien seine Gesangbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, 1821 seine Chorgesangschule. Ihm ist die ein ganzes Jahrhundert dauernde quantitative und qualitative Blütezeit des schweizerischen Chorwesens zu verdanken, so dass er mit Recht der «Sängervater» genannt wird.
Konservatorien, Chöre und Blasmusikvereine
Es gab angestellte Orchester- und Chordirigenten, Musikdirektoren genannt, und Singlehrer an Gymnasien, aber vor der Gründung von Konservatorien keine weiteren angestellten Musikpädagogen. Ab 1858 förderte Friedrich Hegar Zürichs Musikleben nachhaltig. Zunächst war er Konzertmeister des Orchestervereins, nach drei Jahren hingegen schon Chefdirigent. Er trug massgebend zur Gründung der Tonhalle-Gesellschaft 1868 bei, brachte internationale Koryphäen wie Brahms, Liszt, Joseph Joachim, Klara Schumann, Hans von Bülow und viele weitere zu Gastauftritten nach Zürich, hinterliess 1927 beachtliche Kompositionen und gründete 1876 das Konservatorium, das von Anfang an und noch sehr lange eine Berufsabteilung und eine Allgemeine Abteilung bot. Zürichs Konservatorium war aber längst nicht das erste in der Schweiz. Den Anfang machte Genf 1835. Es folgten 1858 Bern, 1861 das Institut de Musique de Lausanne, 1867 Basel und 1873 Winterthur. Das Konservatorium Luzern kam erst 1942 hinzu. In andern Städten und auf dem Lande existierte nichts dergleichen. Somit gab es in einigen Städten öffentlich zugängliche Musikschulen, die aber privat organisiert waren und vom Subventionstropf der Gemeinden abhingen und deren Musikpädagogen Angestellte waren. Doch die Freiberuflichen befanden sich in mächtiger Überzahl. Sie bildeten einen Wildwuchs aller möglichen Qualitätsstufen, wobei die Grenze zwischen Professionellen und Liebhabern wieder nicht zu ziehen war. Die pädagogische Arbeit von Musikliebhabern war nicht immer schlecht. Vor allem talentierte Volksschullehrer leiteten die Tausenden von Männer-, Frauen- und gemischten Chören, die ihr Können in periodischen Musikfesten miteinander massen, von einer Fachjury beurteilt. Auch sorgten die zahlreichen Blasmusikvereine in eigener Regie für den Unterricht ihres Nachwuchses. Und bei der Volksmusik gaben die Eltern ihr Können und Wissen ihren Kindern weiter, meist ohne Notenkenntnisse. Letzteres gibt es auch noch heute.
Die Sorge um die pädagogische Qualität der Musikerziehung führte im Jahre 1893 schliesslich zur Gründung des Schweizerischen Musikpädagogischen Verbandes, damals «Schweizerischer Gesang- und Musiklehrerverein» genannt. Der Name bezeichnet den Schwerpunkt der Bemühungen. Im Zweckartikel der Statuten heisst es denn auch: «Hebung und Förderung des Gesanges und der Musik in der Schule, Kirche, in Haus und Verein». Nebenbei: «Gesang und Musik», diese merkwürdige Bezeichnung blieb noch lange aufrecht. Am Aufgang der Wendeltreppe zur Orgel der Predigerkirche in Zürich prangt noch heute das Schild: «Aufgang nur für Sänger und Musiker». Aus Pietät lässt man das Schild hängen. Die Mitgliedschaft des Vereines, der 1911 auf den heutigen Namen, abgekürzt SMPV, umgetauft wurde, stand auch nicht musikberuflich tätigen Personen offen. Es wurden Weiterbildungskurse für Chorleiter, Schulmusiker und Organisten angeboten. Bei der neuen Namensgebung 1911 erfolgte die «Einführung von Prüfungen für solche Musiklehrer und -lehrerinnen, die nicht im Besitze von Ausweisen über akademisch-musikalische Bildung sind». 1913 erfolgte die erste Ausschreibung solcher Prüfungen, auf die hin sich über sechzig Interessenten meldeten, von denen allerdings nur fünf zur Prüfung antraten. Die Anforderungen des leider verschollenen Reglements waren offenbar hoch. Das war der Beginn der Berufsausbildung des SMPV, die heute noch als europaweiter Sonderfall besteht, weitergeführt von der Schweizerischen Akademie für Musik und Musikpädagogik, die als Departement Musik in der Kalaidos Fachhochschule Schweiz integriert ist. An Konservatorien sind im Laufe des 20. Jahrhunderts Diplomprüfungen für Musikpädagogen erst allmählich eingeführt worden, was die Pioniertat des SMPV erst verständlich macht.
Freiberufliche Musikpädagogen heute
Die Gründungswelle von Musikschulen, zunächst mehrheitlich Jugendmusikschulen, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, führte zu einem flächendeckenden Netz von heute rund 440 dem Verband Musikschulen Schweiz angeschlossenen Musikschulen. Eine Zeit lang glaubte man, mit dieser Umwälzung sterbe der freiberufliche Musikpädagoge aus. Auch wenn viele ehemalige Jugendmusikschulen heute ebenfalls Erwachsenenunterricht anbieten, ist das Gegenteil der Fall. Denn viele Professionelle finden entweder keine Anstellung oder nur ein kleines Pensum an einer Musikschule und unterrichten daneben privat. Dasselbe gilt für diejenigen, die nicht vollamtlich in einem Orchester spielen oder die ihre Gesangskarriere beendet haben. Weitere Nischen steigender Bedeutung tun sich auf bei der hochwichtigen Förderung der Kleinkinder in Eltern-Kind-Singkursen, der musikalischen Elementarerziehung im Vorschul- und ersten Schulalter bis zur Musikgeragogik.
Was ist das Fazit dieses historischen Spazierganges? Neben der notwendigen Professionalisierung der Musikpädagogen darf die Breitenwirkung musikalischer Betätigung und Bildung nicht aus den Augen verloren werden, deren Hebung in Schule und Vereinen ohne Amateure nicht denkbar ist. Das schliesst jedoch eine standespolitische Förderung der sozialen Sicherheit freiberuflicher Musikpädagogen nicht aus.
Nachweis
Der Text basiert auf einem Referat im Rahmen der 43. D-A-CH-Tagung in Würzburg.
Das vollständige Referat ist veröffentlicht in: Elisabeth Herzog-Schaffner und Dirk Hewig (Hrsg.), Der freiberufliche Musikpädagoge – ein Beruf mit Zukunft? Bericht über die 43. D-A-CH-Tagung 2012 in Würzburg, ISBN 978-3-926906-21-2, erhältlich bei der Geschäftsstelle des Deutschen Tonkünstlerverbandes: info@dtkv. org
Anmerkungen
1 Zitiert nach Pfr. Leonhard Stierlin, 43. Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich auf das Jahr 1855, S. 8
2 MGG2, Sachteil Bd. 9, 1998, Sp. 2479.