Es ist genau, wie der Anthropologe Franck Michel sagt: Die Menschen im Süden versuchen in den Norden zu kommen, um Arbeit, bessere Lebensbedingungen und gesellschaftliche Sicherheit zu finden, während die Menschen aus dem Norden in den Süden fahren – vor allem in den Ferien – wegen des milderen Klimas, des entspannteren Lebens, der warmherzigeren Kontakte.

In der Schweiz sind wir typische Vertreter des Nordens, die man für ihren Reichtum, die niedrige Arbeitslosenquote und die politische Stabilität beneidet. Und wir träumen von mehr Sonne! Aber die Begriffe sind relativ: Wir sind alle im Norden von jemand anderem – und im Süden natürlich auch.

So lieben wir die Dolce Vita des Tessins, «unseres» Südens, der zugleich das erträumte nordische Ideal der italienischen Immigranten ist. Nördlichere Regionen, Deutschland, Skandinavien, führen wir oft als Beispiele für wirtschaftlichen Erfolg und nachahmenswerte Bildungsmodelle an: Orte, wo es noch besser funktioniert als bei uns.

Und wo kann sich nun das Musikleben besser entfalten? Im Süden, wo man sich Zeit nimmt für den Genuss schöner Dinge, oder im Norden, wo effizientere Strukturen bereitstehen? Die Komponistin und Geigerin Helena Winkelman meint im Interview, dass Italien wohl nicht mehr das musikalische Zentrum sei, das es einmal war, sondern dass die Impulse heute vor allem aus dem Norden kommen. Die angeordnete Zwangsfusion der beiden Orchester des deutschen Südwestrundfunks zeigt aber auch, wie «nördliche» Sparpolitik dramatische Auswirkungen auf das Musikleben haben kann. – In dieser Nummer geht es also um verschiedene Facetten nordischer Musik, um Positives und Negatives.

Noch etwas: Franck Michels These gilt nicht bis zum Nordpol, denn in jenen extremen Bedingungen kann sich keine stark industrialisierte Gesellschaft entwickeln. Dafür berühren sich in der Polregion Orient und Okzident. Und was verbindet die Völker im Norden Amerikas, im Norden Russlands und im Norden Japans? Ihre Musik!