Auf der Weiterreise

Schwergewichte des musikalischen Kanons fordern zur Auseinandersetzung und Umgestaltung heraus. Sie halten uns so in Bewegung. Gedankensplitter über geloopte Kanons, eine jazzige Winterreise, Mozart on the road und einen Edlen Wilden auf Schloss Waldeck.

Musik ist Fortschreiten in der Zeit. Das gilt nicht nur für den Ablauf eines Stücks. Auch musikalische Inhalte bewegen sich weiter. Bekanntes, seien es nun ein ganzes Werk oder einzelne Elemente, taucht in einer späteren Epoche wieder auf und wird der musikalischen «Landschaft» entsprechend adaptiert. Ein Prozess, der sich durch die ganze Musikgeschichte zieht: Aus Rückblick und Neugestaltung entsteht ein Beziehungsnetz über die Zeiten hinweg. Hier einige Verbindungslinien aus aktuellen Beispielen, die mit Reisen zu tun haben.

Fussmarsch mit Variationen

1705 reiste der zwanzigjährige Johann Sebastian Bach 400 Kilometer von Arnstadt nach Lübeck, um den berühmten Dieterich Buxtehude an der Orgel zu hören. Ein weiter Weg für einen Fussreisenden. Long Walk nennt mehr als dreihundert Jahre später der Pianist Francesco Tristano sein Konzertprogramm, in dem er Werke von Buxtehude und Bach mit eigenen Schöpfungen zusammenbringt.
Bach verlängerte seinen Aufenthalt eigenmächtig auf ein Vierteljahr und als er schliesslich heimreiste, hatte er Eindrücke im Kopf, die sein Wirken und die europäische Musikgeschichte beeinflussten. Der 32-jährige Luxemburger ist zum Konzert im Berner Kleezentrum wohl per Flugzeug oder sonst fremdbeschleunigt angereist. Er spielt unter anderem Buxtehudes Aria La Capricciosa BUXWV 250 über das Volkslied Kraut und Rüben, das Bach möglicherweise zu seinem einzigen Beitrag zum Variationengenre, den Goldberg-Variationen, animiert hat, und Bachs Partita Nr. 5 in G-Dur BWV 829 – auf dem modernen Konzertflügel. Er finde es schade, dass klassische Musik als eine Art Rollenspiel der Vergangenheit behandelt werde, sagt Tristano und kümmert sich nicht um die Regeln der historischen Aufführungspraxis. Und dann setzt er den langen Marsch aus der Geschichte fort, schreitet mit Bach in die Gegenwart. Tristano spielt auch in Clubs, arbeitet auf dem Flügel teilweise wie ein DJ. Jetzt schickt er Bachs 14 Canons über die ersten acht Fundamental-Noten der Aria der Goldberg-Variationen BWV 1087 auf die Reise. Mit Klavier und Elektronik spielt er sie an, überlässt sie dem Raum. lässt sie aus unterschiedlich weit entfernten Lautsprechern zurückkehren, umgibt sie mit Geräuschen, erwartet die verdichteten Klänge zurück. Ein Dialog über die Zeiten. Und das ausserordentlich gemischte Publikum kommt jetzt richtig in Fahrt.

Long Walk, Francesco Tristano spielt Buxtehude, Bach und Tristano, Konzert vom 5. Mai 2013 im Zentrum Paul Klee in Bern; Deutsche Grammophon 0289 476 5003 4 CD DDD GH

Stolpern im Schnee

Während Bach hin und zurück reiste, dreht sich der Wanderer in Schuberts Winterreise im Kreis. Zwar bewegt er sich immer wieder fluchtartig, bleibt aber ausweglos gefangen. Zugrunde liegt der gleichnamige Gedichtzyklus von Wilhelm Müller, der in der Sammlung Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten veröffentlicht wurde. Auch dieses Schwergewicht des Liedesrepertoires hat in jüngster Zeit wieder einmal die Pferde gewechselt. Mathias Rüegg, der Gründer und langjährige Leiter des Vienna Art Orchestra hat die Hälfte der Lieder für Jazzquintett arrangiert; und die junge Sängerin Lia Pale interpretiert sie ganz erstaunlich unbefangen. Pale hat Müllers Texte ins Englische übertragen, oft gekürzt. Leicht und doch melancholisch klingt das, unterstützt von einem sehr klaren, stark ausgedünnten Instrumentalsound. Ob man da wirklich dem ersten Reflex nachgeben will, der für diese Texte doch eine gewichtigere Stimme einfordert? Es leuchtet schon beim zweiten Hören durchaus ein, diese Lieder, losgelöst von der gewohnten Besetzung, als schmerzhafte Selbsterkundung eines Menschen in einer beliebigen Lebenssituation zu lesen, als stolpernde Schritte nach dem Scheitern einer Liebe, eines bisher gegangenen Wegs. Das letzte Lied hat Pale mit dem titelgebenden Fazit Gone too far überschrieben. Nimmt sie die Kühnheit der Bearbeitung doch noch zurück? Lesen wir es lieber als Feststellung, dass es von einer solchen Seelenreise keine Rückkehr in alte Muster gibt. Denn diese Art des Fortschreibens lyrischer Tradition scheint mir keinesfalls zu weit zu gehen.

Lia Pale: gone too far. Komponist: Franz Schubert alias berT; Bearbeiter: Mathias Rüegg alias shoE. Lia Pale, vocals, piano; Ingrid Oberkanins, percussion; Hans Strasser, bass; Harry Sokal, reeds; shoE, piano. Universal Music 0602537296613

 

Image

Kalesche zum Erfolg

Eher um (nachreisendes) Gedenken und Erforschen denn um Neufassen von Werken geht es bei der «Wunderkindreise». Am 7. Juni 1763 machte sich Familie Mozart mit dem siebenjährigen Amadé auf, um Fürstenhöfe in Deutschland und Österreich von der Begabung des Kleinen zu überzeugen. Diese Reise wird nun, 250 Jahre später, unter Federführung der Deutschen Mozart-Gesellschaft nachvollzogen – bis hin zur schwer beladenen Kalesche, die sich am 7. Juni 2013 in Salzburg auf den Weg gemacht hat. Für das Pressebild stiegen sogar Schauspieler in das Gefährt und fühlten sich in die Aufregung der Reisenden ein. Entlang der Reiseroute finden in Zusammenarbeit mit 44 lokalen Veranstaltern in 18 Städten jeweils an den historisch korrekten Daten Konzerte, Vorträge, Führungen und Theateraufführungen statt. Beteiligt sind unter anderem das Concerto Köln, l’arte del mondo, das Pleyel Quartett, Michael Quast, Reinhard Goebel und die Bayerische Kammerphilharmonie sowie die Ludwigsburger Schlossfestspiele. Ein umfangreicher Katalog dokumentiert die Nachreise.

250 Jahre Wunderkindreise – Mit den Mozarts durch 18 deutsche Städte. 

Weitgereister Romanheld auf der Opernbühne

Eine Oper hat in der Regel bereits eine Bearbeitungsreise hinter sich, bevor Musik ins Spiel kommt: Die Handlung geht auf eine literarische Vorlage oder eine Volkserzählung zurück und wurde zum Libretto umgearbeitet. Das gilt auch für André-Ernest-Modeste Grétrys Le Huron, uraufgeführt 1768 in Paris. Aussergewöhnlich ist, dass diese Reise erst nach fast 250 Jahren in die Schweiz führt. Der Stoff basiert auf den Roman L’ingénu von Voltaire, in dem die Vorstellung des Edlen Wilden verarbeitet ist. Ein Indianer vom Stamm der Huronen wird aus Kanada, einer ehemals französischen Kolonie, nach Frankreich gebracht, wo er seine entfernten Verwandten wiederfindet und – nach so viel Unbehaustheit – auch die Liebe. Im Gegensatz zu Voltaire nimmt die Geschichte auf der Opernbühne ein glückliches Ende; Grétry hat den Stoff zu einer opéra comique umgearbeitet. Vom 9. bis 17. August ist sie nun auf Schloss Waldeck zu Hause.

André-Ernest-Modeste Grétry: Le Huron. cantus firmus consort auf historischen Instrumenten; Musikalische Leitung Andreas Reize; Regie Georg Rootering. Schweizer Erstaufführung.