Sommerfestival Ticino Musica
Ticino Musica findet dieses Jahr vom 16. bis 29. Juli statt. Einige Musikerinnen und Musiker, die früher teilgenommen haben und heute international erfolgreich tätig sind, berichten von ihren Erfahrungen, die sie an den Tessiner Meisterkursen gesammelt haben.

Was nur ist Ticino Musica? Was ist das Ausserordentliche dieses Festivals? Um das zu erfahren, sollte man sich im Sommer zwei Wochen Zeit nehmen, um die besondere Stimmung im Konservatorium der italienischen Schweiz wahrzunehmen, um den Geist zu spüren, der sich zwischen einer Unterrichtsstunde in Gesang hier und einer in Bratsche da ausbreitet. Wer in diese Atmosphäre eintaucht, begreift, dass Ticino Musica vor allem eines ist: Dynamik und Bewegung. Das Festival, seit 2009 von Gabor Meszaros als künstlerischem Direktor geleitet, findet in diesem Jahr zum 21. Mal statt.
Vito Žuraj
So hat etwa der slowenische Komponist Vito Žuraj bei Ticino Musica seine ersten Auslandserfahrungen gemacht. Die damaligen Begegnungen mit anderen Musikern sind wesentliche Elemente in der mittlerweile grossartigen Karriere dieses Künstlers. Er ist heute Dozent für Instrumentation, Musikinformatik, Instrumentenkunde, Gregorianik und Notation für zeitgenössische Musik an der Musikhochschule in Karlsruhe und ausserdem seit 2016 Professor für Komposition und Musiktheorie an der Musikakademie in Ljubljana, so wie einst Michael Jarrel, den Žuraj bei einer Meisterklasse von Ticino Musica kennengelernt hat.
Vito Žuraj erinnert sich: «Ticino Musica war der erste Meisterkurs, den ich besuchte; es war mein erster Kontakt mit der Musikwelt ausserhalb Sloweniens. Die Begegnung und der Austausch mit Komponisten ausserhalb meines Heimatlandes war für mich die Entdeckung einer neuen Welt, wurde zu einem Wendepunkt in meinem Schaffen und brachte vieles in Bewegung: Ich begann fortan, meine eigene musikalische Sprache zu entwickeln.»
Žuraj nahm in der Folge drei weitere Male an Ticino Musica teil (2001 bis 2003). Er arbeitete jedes Mal mit anderen Musikern zusammen. Den Kontakt zu ihnen hat er immer noch. Er erlebte Ticino Musica immer von fieberhafter Aktivität geprägt, aber zugleich auch von kontemplativer Ruhe. «Das gesamte Ambiente ist für Komponisten äusserst inspirierend. Man hat Zeit, um intensiv zu arbeiten, und dabei die Möglichkeit, es mit unterschiedlichen Dozenten tun.»
Gloria Campaner
Für die Pianistin Gloria Campaner war das Festival einst sommerlicher Höhepunkt, die wichtigste musikalische Veranstaltung in den Sommermonaten. «Ticino Musica bedeutete für mich als Heranwachsende in meiner Ausbildung viel. Ich habe das Angebot bereits in meinen frühen Gymnasialzeiten wahrgenommen. Ich kam aus einem kleinen Touristenort an der Adria. Dort waren die Sommermonate kaum von Musik geprägt. Es fehlte jegliche musikalische Anregung. Da war Ticino Musica für mich ein Glücksfall. Das Ambiente erlebte ich als schön und bereichernd. Der Kontakt zu meinem Lehrer, zu Kollegen, Freunden und weiteren Musikern und Musikerinnen war etwas Kostbares. Die Atmosphäre hat mich zutiefst berührt und dazu geführt, dass ich aus der Musik nicht nur meinen Beruf machte, sondern in ihr geradezu den Sinn des Lebens sehe. Die Kammermusikerfahrungen bei Ticino Musica waren für mich äusserst bedeutsam. Durch sie wuchs in mir mehr und mehr die Neugierde darauf, Musik auch mit anderen zu teilen.» Gemeinsam musizieren, sich gemeinsam vervollkommnen: Das ist das Geheimnis der Meisterklassen von Ticino Musica. Sie sind nicht nur eine Schule für Musik, sie sind ebenso eine fürs Leben. «Wichtig für mich waren denn auch die Begegnungen bei Ticino Musica. Aus ihnen entstanden oftmals gute und anhaltende, bis heute bestehende Freundschaften. Nicht selten führten sie zu wunderbarer musikalischer Zusammenarbeit wie im Falle des Cellisten Johannes Moser, den ich zum ersten Mal vor 14 Jahren bei Ticino Musica getroffen habe.»
Julian Bliss
Der weltbekannte Klarinettist Julian Bliss findet es wichtig, bei Ticino Musica Kontakte zu knüpfen und Beziehungen pflegen zu können. Besonders schätzte er, dass die Lernerfahrungen aus den Meisterklassen gleich praktisch im Rahmen von Konzerten umgesetzt wurden, die Ticino Musica in den Zentren Lugano, Bellinzona und Locarno, aber auch in sehr abgelegenen Orten organisierte. «Es ist so wichtig, auftreten zu können. Ich fand die Orte, an denen die Konzerte stattfanden, einfach wunderschön. Schubert oder Sheperd auf einem Berg zu spielen, ist etwas Einzigartiges, eine Erfahrung, die ich bis heute mit mir trage.» Auch heute würde der Klarinettist jedem jungen Musiker, jeder jungen Musikerin raten, sich in einen Meisterkurs von Ticino Musica einzuschreiben. Warum? «Man lernt. Man lernt ständig. Man lernt auch, wenn man sich mit einem anderen Musiker darüber austauscht, warum er ein bestimmtes Stück auf eine bestimmte Art und Weise spielt, was seine Geheimnisse sind.»
Ries Schellekens und Daria Zappa
Den Besuch eines Meisterkurses hält auch der Tuba-Virtuose Ries Schellekens trotz der für die Musiker der jüngeren Generation so wichtig gewordenen Angebote wie Youtube oder die sozialen Netzwerke für eine unerlässliche Erfahrung. «Es ist etwas ganz anderes», stellt er fest. «Ich besuchte den Meisterkurs von Rex Martin: Ein unvergessliches Erlebnis. Wie er über seinen Umgang mit dem Instrument sprach, hat mir wirklich die Augen geöffnet. Das ist mir bis heute nützlich für das Instrumentalspiel und ebenso für den Unterricht.» Nach Ries Schellekens braucht ein junger Musiker dreierlei: Ehrgeiz, Beharrlichkeit, Bescheidenheit. Die drei Eigenschaften stimmen seiner Meinung nach überein mit der Philosophie von Ticino Musica.
Dass Ticino Musica auch für einheimische Musiker und Musikerinnen ein grossartiges Angebot ist, weiss Daria Zappa aus Minusio im Tessin. «Ticino Musica ermöglichte es mir, meine Studien da zu vertiefen, wo ich aufgewachsen bin.» Sie hatte u. a. in Deutschland und insbesondere in Freiburg i. Br. Violine studiert. «Bei Ticino Musica dann arbeitete ich mit Franco Gulli: Er war damals bereits über 70. Er spielte hervorragend. Der Meisterkurs mit ihm dauerte zwar nur zwei Wochen, war aber äusserst intensiv. Ich habe viel profitiert.»
«Manchmal lernt man bei diesen Meisterkursen und Festivals durch die Kombination von Individual- und Gruppenunterricht gar mehr als in einem ganzen Jahr», stellt Schellekens fest. «Dabei ist eine Woche zu wenig, vor allem wenn man – wie ich bei Rex Martin – eine ganz neue Art des Spielens lernt. Es braucht weit mehr Zeit, um das Gelernte zu verinnerlichen und in die eigene Praxis umzusetzen. Ich machte dank Ticino Musica erstaunliche Fortschritte und erhielt so eine der zehn Tuba-Stellen in den Niederlanden.»
Es sind Erfolgsgeschichten und ebenso Geschichten von Freundschaften und Begegnungen; es sind vor allem Geschichten einer grossen Liebe: Der Liebe zur Musik. Ticino Musica pflegt diese Liebe und bringt sie in jedem Sommer neu zum Blühen.