Die Motetten überraschen
Lieder und Motetten der Zürcher Komponistin Martha von Castelberg, einer Autodidaktin, die aus einer tiefen Spiritualität schöpfte.
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Wenn man liest, dass die Komponistin Martha von Castelberg (1892–1971) weder Klavier- noch Kompositionsunterricht erhalten hat, kommt man beim Hören der CD mit ihren Motetten sowie weltlichen und geistlichen Liedern ins Grübeln: Hätte Lili Boulanger ihren Liederzyklus Clairières dans le ciel ohne geregelten Kompositionsunterricht, Fanny Hensel ihr Klavierwerk Das Jahr ohne langjährigen Klavierunterricht schreiben können? Bringt einen das autodidaktische Erlernen eines Instruments dazu, neue Wege zu entdecken, und könnte es sein, dass das Komponieren ohne Studium bei einem Lehrer oder einer Lehrerin einen davon abhält, auf stilistisch ausgetretenen Pfaden zu wandeln?
Castelbergs Lieder, nicht aber ihre Motetten lassen einen eher zur Überzeugung gelangen, dass ein geschultes Handwerk ihrem Komponieren förderlich gewesen wäre und sich ihr zweifellos vorhandenes Talent freier hätte entfalten können. Man hat das Gefühl, dass ihre Lieder vom Klavier etwas gar schlicht begleitet werden und ein bisschen pianistische Raffinesse auch den geistlichen Texten gut anstehen würde.
Wer war Martha von Castelberg? Die Zürcherin wuchs als Tochter eines Privatbankiers in einem streng katholischen bürgerlichen Elternhaus auf. Früh erhielt sie Geigenunterricht, durfte aber trotz ihrer Begabung nicht Musik studieren. Wie Sibylle Ehrismann in ihrem informativen CD-Booklet schreibt, setzte sich von Castelberg, die sehr gläubig und spirituell interessiert war, mit ihrem Mann für den Zürcher Katholizismus ein, der in der reformierten Stadt einen schweren Stand hatte. Viele ihrer Kompositionen haben einen religiösen Hintergrund, andere eine Beziehung zum bündnerischen Disentis, der Heimat ihres Mannes.
Die vier Sängerinnen und Sänger und die Pianistin interpretieren die Lieder mit hörbarem Engagement, farbenreich und fein gestaltet. Wenn man alle Lieder, die einzeln durchaus reizvoll sind, hintereinander hört, stellt sich besonders bei den geistlichen Gesängen eine gewisse Monotonie ein, da die Werke doch etwas zu wenig unterschiedlich sind. Es ist bemerkenswert, dass es von den gewählten Texten – etwa von Fontane, Rückert, Bergengruen und rätoromanischen Dichtern – kaum andere Vertonungen gibt.
Die eigentliche Entdeckung auf der CD sind aber die fünf Motetten für gemischte Stimmen. Sie werden vom Basler larynx Vokalensemble unter der Leitung von Jakob Pilgram auf höchstem Niveau, klangschön und mit jeder wünschenswerten Differenzierung interpretiert. Obwohl fest in der Tradition der geistlichen Musik verankert, faszinieren die Motetten durch eine aparte, «moderne» Harmonik. Sie dürften Martha von Castelbergs wichtigster Beitrag zur schweizerischen Musik des 20. Jahrhunderts sein.
Die Namen, Werktitel und Liedtexte im Booklet enthalten ziemlich viele Fehler, was bei einer sonst so sorgfältigen Edition besonders auffällt.
Martha von Castelberg: Lieder und Motetten. Estelle Poscio, Sopran; Susannah Haberfeld, Mezzosopran; Remy Burnens, Tenor; Äneas Humm, Bariton; Judit Polgar, Klavier; larynx Vokalensemble; Jakob Pilgram, Leitung. Solo Musica SM 334