Am Ende der Zeit
Das Zurich Ensemble nimmt es auf «beyond time» mit Messieans «Quatour pour la fin du temps» auf, beginnt aber mit Gegenwartskompositionen von Fabian Müller und Volker David Kirchner.
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Steigern schwere Zeitumstände den Hunger nach künstlerischem Ausdruck? In einem Kriegsgefangenenlager bei Görlitz lauschten im Jahr 1941 Hunderte Insassen gebannt einem Quartett, welches Mitgefangene gegründet hatten. Einer von ihnen war der Olivier Messiaen. Das uraufgeführte Stück aus seiner Feder, das Quatour pour la fin du temps, gilt heute als eines der einflussreichsten Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts.
Fabio Di Càsola (Klarinette), Kamilla Schatz (Violine), Pi-Chin Chien (Violoncello) und Benjamin Engeli (Klavier) haben sich von dieser Uraufführung unter Extrembedingungen inspirieren lassen und es auf ihrer zweiten CD mit dieser beispiellosen Komposition aufgenommen. Das Resultat darf Referenzcharakter beanspruchen. Die klar definierte Herangehensweise des Zurich Quartetts macht die Ideenwelt Messiaens hautnah, manchmal beklemmend direkt erfahrbar: Da wird aus exzessiv eingesetzten modalen Skalen und clusterartigen Harmonien ein Maximum an aufregenden Farben geschöpft. Auch blitzt zuweilen diese charakteristische instrumentale Rhetorik auf, die Messiaen den Vogelstimmen ablauschte. Raffiniert werden Elemente aus den Musikkulturen der Welt für die eigene Sache nutzbar gemacht – man denke allein an die vielen unisono geführten modalen Skalen, wie wir sie aus der indischen Musik kennen und wie sie auch viele Jazzer seit den 1960er-Jahren verwenden.
Es wirkt so schwerelos-selbstverständlich, wie diese Spieler jeder noch so filigran verästelten Nuance eindringlich nachspüren – egal ob feinziselierte Flageolett-Glissandi in höchsten Registern oder weit gespannte melodische Linien des Cellos oder der Klarinette. Und es gelingt grossartig, wie in den langen solistischen Parts durch treffsicher dosiertes Vibrato so manche «unendliche» Melodie ihren eigenen Atem entfaltet. Das Quartett vom Ende der Zeit wiederspiegelt Zustände von starker Ambivalenz. So will es die Partitur, und so weist das Spiel jenseits ausgiebiger meditativer Linien auch regelmässig wiederkehrende bedrängende Energieschübe auf.
Diesem gewichtigen Programmpunkt sind auf der vorliegenden CD zwei Gegenwarts-Kompositionen «vorgeschaltet». Durchaus humoristisch wirkende Grenzbereiche zwischen gesprochenem Wort, Gesang und Instrumentalmusik lotet Fabian Müllers Komposition Am Anfang – Drei Versuche die Welt zu erfinden aus. Es erinnert an ein expressionistisches Melodram im Stile Schönbergs, wie die Sopranistin Christiane Boesinger in diesen Texten den Versuch betreibt, «die Welt neu zu erfinden».
Volker David Kirchners Stück Exil evoziert wiederum Seelenzustände, die denen des Quartetts für das Ende der Zeit nicht unähnlich sind, wenngleich die elegisch-gedämpfte Diktion von Kirchners Komposition aus dem Jahr 1995 ungleich zerbrechlicher wirkt.
zurich ensemble (Fabio die Casola, Klarinette; Kamilla Schatz, Violine; P-Chin Chien, Violoncello; Benjamin Engeli, Klavier; Christiane Boesiger, Sopran): beyond time (Werke von Fabian Müller, Volker David Kirchner, Olivier Messiaen). Ars Produktion 2016