Pranke? Händchen?

In Solowerken oder grossen Klavierkonzerten ist Hélène Grimaud auf diesen Aufnahmen zu erleben, die von 1995 bis 2001 mitgeschnitten wurden.

Ausschnitt aus dem CD-Cover

Auf dem Cover der CD-Box lächelt Hélène Grimaud geheimnisvoll, als wolle sie sich einer klaren Beurteilung entziehen. Die in Weggis lebende Französin ist nicht so leicht zu greifen. Das ist eindrucksvoll zu erleben in den sechs CD-Aufnahmen, die zwischen 1996 und 2001 bei Erato und Teldec erschienen sind und nun von Warner Classics nochmals im Schuber herausgegeben wurden. Sie hat die solistische Pranke für Brahms‘ vollgriffigen Klaviersatz beim ersten Klavierkonzert, aber auch ein feines Händchen für die lyrisch-melancholischen Intermezzi seines Spätwerks. Sie ist sowohl Ausdruckskünstlerin als auch Strukturalistin. Sie meidet die Extreme, ohne dabei langweilig zu werden. Gelegentlich, wie in Beethovens Klaviersonate op. 109, wünscht man sich vielleicht einen etwas dezenteren Pedaleinsatz, weil doch manches verunklart ist, was man gerne genauer gehört hätte. In der Aufnahme von 1995 zeigt sich Grimaud als Meisterin der Charakterisierung, die jeder der Variationen im Finale «Gesangvoll, mit innigster Empfindung» eine ganz spezielle Note, einen individuellen Farbton verleiht. In der A-Dur-Sonate op. 110 hält sie sich im Moderato nicht sklavisch an den Notentext, indem sie den Höhepunkt der Phrase nicht wie notiert als Sforzato spielt, sondern ins Piano zurücknimmt und gerade dadurch eine besondere Wirkung erzielt. Diese kleinen Freiheiten nimmt sie sich auch bei Schumanns Klavierkonzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter David Zinman, was aber das Zusammenspiel nur noch spannender macht. Auch bei Rachmaninows zweitem Klavierkonzert (Philharmonia Orchestra/Vladimir Ashkenazy) zeigt Grimaud agogische Flexibilität, ohne sich dabei zu verlieren. In den Solostücken wie dem g-Moll-Prélude erweist sie sich als grosse Geschichtenerzählerin.

Die Studioaufnahmen haben, was die Orchester angeht, ebenfalls eine sehr gute Qualität. Nur dem Livemitschnitt von Brahms‘ erstem Klavierkonzert mit der Staatskapelle Berlin unter Kurt Sanderling fehlen Präzision im Zusammenspiel und eine genaue klangliche Balance. Ein anderes Gesicht zeigt Hélène Grimaud mit den Klavierkonzerten von Gershwin (F-Dur) und Ravel (G-Dur). Mit einem fast perkussiven Anschlag bringt sie hier die Motorik zum Vibrieren. Und zeigt in den bluesigen Einsprengseln, dass sie auch fern der Romantik ganz zu Hause ist.

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Hélène Grimaud (Klavier): The Complete Warner Classics Recordings. Beethoven, Brahms, Gershwin, Ravel, Rachmaninow, Schumann, R. Strauss, 6 CDs, Warner Classics/Erato 2564622737

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