Von der Uraufführung zur Drucklegung
Erst seit 2019 können Verdis erste Entwürfe für sein Streichquartett e-Moll eingesehen werden. Die Unterschiede zwischen Uraufführungs- und Druckversion sind enorm.

Dass man bezüglich neuen, bisher wenig bekannten oder vergessenen Repertoires immer wieder überrascht werden kann, haben die letzten Jahre bewiesen. Eine Vielzahl an Streichquartetten kamen ans Licht, die zu Unrecht lange Zeit im Dunkeln lagen, wie beispielsweise diejenigen von Franz Xaver Richter, Peter Hänsel, Adalbert Gyrowetz oder Carl Czerny, um nur wenige zu nennen. Dass aber ein Quartett – und zwar das einzige – von einem weltberühmten Komponisten plötzlich in einer anderen Fassung zugänglich ist, die sich erheblich von dem viel gespielten Werk unterscheidet, ist hingegen höchst selten.
Verdi soll es langweilig gewesen sein; eine längere Probenpause soll ihn weg vom Gesang, hin zur reinen Instrumentalmusik getrieben haben, der er sich bekanntlich bis dahin nicht zugewandt hatte und dies danach auch für den Rest seines Lebens nicht mehr tun würde. Vom Erfolg des 1873 im kleinen Kreis uraufgeführten «Gelegenheitswerks» war Verdi selbst überrascht. Das Streichquartett als Gattung verortete er im deutschen Kulturkreis und empfand es als ein dem italienischen Gaumen fremdartiges Erzeugnis. Dennoch studierte er heimlich und sehr gründlich dessen DNA, was der veröffentlichte Erstdruck von 1876 eindrücklich beweist. Das Wesen und der Charakter des Quartetts sind originär südländischen Kolorits, die zugrunde gelegte Architektur hingegen basiert auf den Erzeugnissen der besten Meister der Zunft, die dem Italiener als Heiligtum galten.
Dass die uraufgeführte Version ein ganz anderes Stück war als die gedruckte, dürfte den wenigsten Kennern und Interpreten bewusst sein. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Verdis Manuskriptentwürfe aus der ersten Entstehungszeit – mithin 41 Seiten als Zeugen harter Arbeit – erst seit 2019 der Forschung zugänglich sind. Dem Drängen der ersten Zuhörer, den berühmten Opernkomponisten auch als Kammermusik-Meister öffentlich zu machen, schlug vom Urheber zunächst brüske Abwehr entgegen, bis er sich doch allmählich für diese Idee erwärmen konnte.
Was folgte, war ein Aufwand, den er wohl lieber vermieden hätte. Denn mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit mit den Besten im Erschaffen eines Streichquartetts zu spielen, ist eine Sache, diese international auf den Prüfstand zu stellen, eine ganz andere. Dass es vor Häme in den Feuilletons nur so kochen würde, wenn er den Ansprüchen aus dem Norden nicht genügen sollte, stand ihm deutlich vor Augen. Der national geprägte Musikbegriff jener Zeit zeigte sich auch in Ausgrenzung und Herabsetzung anderer Tonschöpfer. Edvard Grieg konnte als norwegischer Streichquartett-Exot 1878 ein trauriges Lied davon singen, wie man ihn in «Fachkreisen» der groben Unfähigkeit beschimpfte. Vorsicht war also geboten für Verdi, der einen tadellosen Ruf zu verlieren hatte. So beschäftigte ihn seine Komposition, die er kokett «senza importanza» nannte, insgesamt sieben Jahre.
Es wäre allerdings unfair, dem Erstentwurf mangelnde Qualität zu unterstellen. Verdi geht dort weniger ausgeklügelt und methodisch vor, verlässt sich vor allem auf seine brillante Erfindungsgabe, die ein frisches und sehr ansprechendes Werk mit wacher Genialität zum Vorschein bringt. Etwas von dieser Respektlosigkeit könnte man im publizierten Quartett, das fast ein Drittel länger ist, vermissen, hätte man Gelegenheit, die beiden Stücke nebeneinander zu hören.
Für mich, der ich das Werk aus frühesten Ensembletagen kenne, ist es fast schon amüsant zu sehen, wie sich zwei der gefürchtetsten Stellen der zweiten Geige in der gesamten Streichquartettliteratur im Erstling in Luft auflösen: Das Thema im ersten Satz, etwas unangenehm auf der G-Saite zu spielen, intoniert nämlich die Primgeige, und den heiklen Scherzo-Fugenanfang im Finale, pianissimo leggerissimo zu artikulieren, gibt es überhaupt nicht. Wie übrigens gänzlich eine Fuge fehlt. Hochspannend das Ganze … In der Studienpartitur ist neben der Druckfassung auch die Uraufführungsfassung enthalten.
Ein grosses Lob für den G.-Henle -Verlag, den Werdegang des Glanzstücks Verdis so nachvollziehbar herauszuarbeiten!
Giuseppe Verdi: Streichquartett e-Moll, hg. von Anselm Gerhard; Stimmen: HN 1588, € 25.00; Studienpartitur: HN 7588, € 14.00; G. Henle, München