Komplexe Entstehungsgeschichte
Das 2. Streichquartett von Béla Bartók ist in einer Neufassung erschienen, es ist die wohl wahrscheinlichste Version nach dem Willen des Komponisten.
Béla Bartóks eminent schwierige Streichquartette sind längst keine Schreckgespenster eines klassisch-romantisch orientierten Publikums mehr, sondern fester Bestandteil des Bühnenrepertoires und eine willkommene Herausforderung für professionelle Streichquartette. Die langwierige Entstehungs- und komplexe Verlagsgeschichte des 2. Streichquartetts op. 17, uraufgeführt am 3. März 1918 vom Waldbauer-Kerpely-Quartett in Budapest, erschwerte die vorliegende Neuausgabe bei G. Henle in Zusammenarbeit mit der Editio Musica Budapest erheblich.
Erste Motive und Entwürfe einzelner Passagen entstanden bereits 1914. 1915 entwickelte Bartók das Stück weiter, bevor er pausierte und erst im Frühjahr 1917 in die Endphase des Komponierens eintrat. Anfang und Ende des Prozesses stimmen annähernd mit den Eckdaten des Ersten Weltkrieges überein, dessen Wirren grossen Einfluss auf die Entstehung hatten. Nicht Ungarns Folklore stand diesmal Pate, sondern Eindrücke einer vor dem Krieg durchgeführten Reise mit seiner Frau Márta nach Algerien. Überrumpelten «Landbewohnern» verschiedener Oasen setze Bartók damals den berühmten Sammel-Fonografen vor die Nase. Die Ausbeute der vorzeitig wegen unerträglicher Hitze und Gesundheitsproblemen des Komponisten abgebrochenen Forschungsreise findet ihren Niederschlag im zweiten Satz, der rhythmisch und melodisch arabisch geprägt ist. Im resignativ endenden letzten Satz, den sein Freund Zoltán Kodály mit der imaginären Überschrift «Leid» versah, könnte man einen Abgesang auf die versunkene Welt der österreichisch-ungarischen Monarchie oder gleich der europäischen Ordnung mittels eines sinnlos mörderischen Krieges mit zahllosen Opfern verstehen.
Das zunehmende Chaos im Verlauf des letzten Kriegsdrittels erschwerte die Kommunikation zwischen Bartók und der Universal Edition in Wien. Nicht alle im Prozess der Korrekturen entstandenen Druckgrundlagen haben überlebt. Selbst der Komponist konnte bis in sein Todesjahr 1945 nicht alle Diskrepanzen ausräumen, weswegen die Neuausgabe sich auf die wahrscheinlichste Endfassung nach Bartóks Willen stützt. Dennoch konnten einige Fehler der Universal-, später Boosey-&-Hawkes-Ausgabe eliminiert werden, und Interpreten dürfen sich über eine in allen Punkten überzeugende Revision freuen. Spannend sind auch die zugänglich gemachten Anmerkungen Kodálys zu Bartóks Werk, die dieser aus unerklärlichen Gründen in Gänze publizistisch ignoriert hatte.
Einen grossen, ungemein angenehmen Fortschritt hat man hinsichtlich der Entzerrung des Notenbilds gemacht. So wurde beispielsweise die Stimme der 1. Violine von bisher 11 Seiten auf 17 erweitert.
Béla Bartók: Streichquartett Nr. 2 op. 17, hg. von László Somfai; Stimmen: HN 1422, € 24.00; Studienpartitur: HN 7422, € 14.00; G. Henle, München