Französischer Jugendstil
Die beiden Violinsonaten von Camille Saint-Saëns gehören mit denjenigen von Franck und Fauré zu den wichtigsten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die späten Violinsonaten von Camille Saint-Saëns sind bald nach ihrer Entstehung ins Repertoire der besten Musiker aufgenommen worden. Die erste, 1895 geschrieben, uraufgeführt vom Komponisten mit dem Violinisten Otto Peiniger in England im selben Jahr, ist ausserordentlich virtuos. Sie ist offensichtlich für den Konzertsaal geschaffen, hat manchen träumerischen Moment und wirkt mit ihren vier abwechslungsreichen Sätzen leichtfüssig.
Die zweite Sonate, 1896 während einer langen Reise in Ägypten entstanden, ist tiefgründiger und eignet sich als Kammermusik. Saint-Saëns hat sie zusammen mit seinem Freund Pablo de Sarasate anlässlich seines fünfzigsten Bühnenjubiläums in der Salle Pleyel uraufgeführt. (1846 war er als 10-Jähriger dort erstmals aufgetreten.)
Beide Sonaten fussen noch auf der traditionellen viersätzigen Form, auch innerhalb der Sätze hört man das klassische Schema deutlich heraus, hier aber fantasievoll erweitert. Harmonisch fallen die kühnen Modulationen auf, die sich im Notenbild mit vielen Vorzeichenwechseln manifestieren. Rhythmisch lässt sich Saint-Saëns gern von antiken Sprachmetren inspirieren, und die Zwiegespräche der beiden Parts sind wechselvoll gleichberechtigt singend – perlend.
Hier eine kleine Beschreibung der zweiten Sonate: Dem punktierten männlichen Hauptthema folgt ein wellenförmiges weibliches Gegenthema und ein seufzendes, dann sich aufbäumendes Schlussthema. In der kurzen Durchführung verschränkt Saint-Saëns die drei und steigert sie virtuos zu einem Höhepunkt, aus dem die Reprise donnert, deren neue Überraschungen in eine fulminante Coda münden. Das witzige synkopische Scherzo hat ein ruhiges bachsches Fugato-Trio. Das dreiteilige Andante mit seinem gedehnt mystischen Gesang, der fein-melismatisch begleitet wird, ist aufgelockert mit einem 3/8-Allegretto-Mittelteil. Ein graziöses Rondo-Finale beginnt harmlos, steigert sich zu aufsteigenden Vogelrufen, die die Sonate fröhlich abschliessen, und erinnert im Mittelteil an ein Motiv aus dem ersten Satz.
Der grosse Notensatz ist ganz unbelastet von herausgeberischen Zusätzen und wendefreudlich. Die Vorwörter der Herausgeber (französisch, englisch, deutsch), aus denen ich die Informationen geschöpft habe, sind insofern wertvoll, weil sie viele Briefe von Saint-Saëns zitieren, die auch Tipps für die Interpretinnen und Interpreten enthalten.
Camille Saint-Saëns: Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier d-Moll op. 75, hg. von Fabien Guilloux und François de Médicis, BA 10957, € 31.95, Bärenreiter, Kassel
Id.: Sonate Nr. 2 in Es-Dur op. 102, BA 10958, € 28.95