Plädoyer für Mainardi

Leserbrief zum Artikel «Historisch, Aufführung, Praxis» in: Schweizer Musikzeitung 1_2/2024, Seite 12 ff.

Bild: sonar/depositphotos.com

Durch den Artikel «Historisch, Aufführung, Praxis» in der Ausgabe von Januar/Februar 2024 in der Schweizer Musikzeitung weiss ich nun, dass es die historische Aufführungspraxis in der Schweiz schon seit 90 Jahren gibt. Weil ich Cello spiele, interessiert mich natürlich, was diese Bewegung für die Interpretation der Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach gebracht hat. Ich hatte im Jahr 1950 die ersten Cellostunden, und damals hat in meiner Heimatstadt in Westdeutschland noch niemand von historischer Aufführungspraxis gesprochen. Aber ich erinnere mich noch, dass mein Lehrer mich in ein Konzert in Frankfurt am Main mitgenommen hat, in dem Enrico Mainardi drei der sechs Solosuiten auswendig gespielt hat. Das war das Ergebnis eines jahrelangen Studiums und einer sorgfältigen Formanalyse.

Wenig später sind die sechs Suiten mit seinen Fingersätzen, Bogenstrichen und der Formanalyse im Verlag Schott erschienen. In der Einleitung schreibt Mainardi: «Die Bogenstriche und Fingersätze dieser Ausgabe sind festgelegt worden in der Absicht, den ‹linearen Kontrapunkt›, der das formgebende Prinzip der Violoncello-Suiten von Bach ist, so deutlich wie möglich zu machen. Dies suchte ich zu erreichen mit Hilfe des Gegensatzes, der aus einem bewussten Wechsel zwischen Gebunden und Nichtgebunden entsteht, sowie durch die Ausnutzung der verschiedenen Klangfarben der vier Cellosaiten.»

Beispiele

Wenn man nun die Ausgabe von Mainardi mit späteren Ausgaben der Suiten vergleicht, dann stellt man fest, dass die Pionierarbeit dieses grossen Cellisten anscheinend keine Früchte getragen hat. Ich möchte das an zwei Beispielen aus der Ausgabe von Leisinger (bei Wiener Urtext-Edition) zeigen. Dort beginnt das Präludium der 1. Suite damit, dass die drei ersten Noten G-d-h auf einen Bogen genommen werden. Es wird also in romantischer Manier der Dur-Akkord hervorgehoben. Bei Mainardi sind hingegen in Takt 1 nur die drei Noten h-a-h gebunden, und das tiefe G wird immer abgesetzt und als Orgelpunkt aufgefasst, der vier Takte lang ausgehalten wird. Man muss nicht wie Leisinger drei oder vier verschiedene Quellen studiert haben, um zu begreifen, dass Mainardi Bach besser verstanden hat.

Das andere Beispiel nehme ich aus der Gigue der 4. Suite in Es-Dur. Hier hat die Wiener Ausgabe durchwegs je drei Achtel durch einen Bogen verbunden, also: (1 2 3) (4 5 6) (7 8 9) (10 11 12). Geht es noch langweiliger? Da bringt es auch nichts, wenn man mit einem Barockbogen spielt. Mainardi bindet so nur zwei Takte lang, danach durchbricht er das starre Schema, und in Takt 7 und 8 bindet er so: (1 2 3) 4 (5 6) (7 8 9) 10 (11 12), und in Takt 9 wieder anders, nämlich (1 2 3) 4 5 (6 7) 8 (9 10) 11 12. Das macht den Satz, der nur aus Achteln und vier langen Endnoten besteht, erst lebendig.

Wie ist es möglich, dass in Wien, wo Nikolaus Harnoncourt, der zuerst Cellist war, mit seinem Concentus Musicus die historische Aufführungspraxis propagiert hat, eine Ausgabe der Cello-Suiten erscheint, die das von Mainardi schon in den 1950er-Jahren Geleistete ignoriert und sich auch noch mit dem Prädikat «Urtext» schmückt?

Kein Autograf

Welche Bögen Bach selber gesetzt hat, wissen wir nicht, weil das Autograf verloren gegangen ist. Das Studium der Abschriften führt zu keinen eindeutigen Antworten. In der Wiener Urtext-Edition (Schott/Universal Edition) heisst es im Vorwort: «Leider sind die Bögen in den meisten Abschriften sehr nachlässig gesetzt.» Das gilt auch für die Kopie aus der Feder von Anna Magdalena Bach. Zum Glück existiert noch das Autograf der Violinsonaten BWV 1001–1006, das ebenfalls von Anna Magdalena kopiert wurde.

Wenn man beides vergleicht, stellt man fest: «Während Bach in aller Regel analoge Passagen wie Sequenzen und Wiederholungen gleich bezeichnet, setzt Anna Magdalena an entsprechenden Stellen die Bögen unterschiedlich. Die Kopistin gestaltet die Bögen häufig zu flach und … zu kurz, so dass Anfang und Ende des Bogens unbestimmt bleiben. Gelegentlich lässt die Schreiberin einzelne Bögen aus, andernorts fügt sie neue hinzu.» (Schwemer und Woodfull-Harris, Textband zur Ausgabe der 6 Suites a Violoncello Solo senza Basso im Verlag Bärenreiter, BA 5215, S. 6) Die alten Quellen können deshalb nicht viel helfen bei der Suche nach geeigneten Bogenstrichen.

In der Ausgabe des Schott-Verlags ist Mainardis Analyse kleingedruckt unter jede Zeile gesetzt. Dadurch ist sie wenig geeignet für Aufführungen. Es wäre von grossem Nutzen, wenn es eine Ausgabe mit den Bogenstrichen von Mainardi gäbe, aber mit seiner Formanalyse in einem separaten Heft.

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