Komponieren wie Brotbacken

Ein Sammelband stellt Henri Vieuxtemps’ Werke für Violine und Klavier vor; in der Air Nr. 3 lässt sich die Kompositionskunst des Jugendlichen bewundern.

Henri Vieuxtemps mit acht Jahren. Porträt von Barthélemy Vieillevoye von 1828. Quelle: Musée Wittert, Université de Liège; wikimedia commons

Henri Vieuxtemps (1820–1881) war eine frühe Begabung. Das Air varié Nr. 3 schrieb er mit 13 Jahren: «Ich mache ein Air varié jeden Tag wie einen Laib Brot!» Die Introduktion des Stücks für Violine und Streichquartett oder Streichorchester hat dramatisch punktierte Aufstiege und Doppelschlag-Seufzer. Das schlichte Thema wird fünf Mal in verschiedenen Rhythmen und in Doppelgriffen durchgeführt und von viertaktigen kräftigen Tutti unterbrochen. Eine Coda beendet das Stück brillant.

Die hier vorliegende Version für Violine und Klavier ist hübsches Studienmaterial für junge Geigende mit meist akzeptablen Fingersätzen; das Klavier hat nur unterstützende Funktion. Das Vorwort geht auf Biografie und Werk ein und ist anregend, der kritische Bericht lässt dem Interpretierenden Freiraum für eigene Entscheidungen. Der Schweizer Verlag Kunzelmann hat in den letzten Monaten in verdienstvoller Weise noch etliche weitere Stücke für Violine und Orchester von Henri Vieuxtemps als Klavierauszüge veröffentlicht.

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In seinem späteren Leben konzertierte Vieuxtemps in Amerika, Europa und Russland, er war ein begabter Lehrer (Ysaïe, Hubay) und (immer noch) fleissiger Komponist. Nebst seinen Violinkonzerten und Streichquartetten hat er auch für Violine und Klavier geschrieben.

Die im umfangreichen Auswahl-Heft Henri Vieuxtemps Repertoire für mich herausragenden Stücke sind die 3 Romances sans paroles: Chant d’amour, Désespoir und Souvenir, die zwischen drei und vier Minuten dauern. Ihr Titelcharakter kommt deutlich zum Ausdruck und wird verstärkt durch pianistisch reiche Rhythmik und überraschende harmonische Wendungen. Die anderen längeren Stücke sind mit viel Virtuosität gespickt, an welcher auch das Klavier beteiligt ist. Lustig ist das dritte Morceau de salon: La Chasse, bei dem die G-Saite auf b hinaufgestimmt werden muss und so die notierten Töne eine Terz höher klingen. Das Vorwort schildert Vieuxtemps’ Leben und Verdienste und charakterisiert die im Heft enthaltenen Werke. Die Violinstimme hat Friedemann Eichhorn mit Fingersätzen und Bogenstrichen versehen. In der Klavierstimme ist die Solostimme so wie in den Erst- und Frühdrucken belassen.

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Henri Vieuxtemps: Air varié Nr. 3, Ausgabe für Violine und Klavier, Erstdruck, hg. von Olaf Adler, GM-1954a, Fr. 14.00, Edition Kunzelmann, Adliswil

Henri Vieuxtemps Repertoire. Die schönsten Stücke für Violine und Klavier, hg. von Wolfgang Birtel und Friedemann Eichhorn, ED 22603, € 28,00, Schott, Mainz u.a.

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