Überschattete Juwelen
Von den acht Streichquartetten Joachim Raffs wurden die ersten beiden vorbildlich neu herausgebracht.
Breitkopf & Härtel, in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv im schweizerischen Lachen, ist die Neuausgabe der ersten beiden Streichquartette von Joachim Raff in Stimmen und Partitur zu verdanken, die 1855 bzw. 1858–59 entstanden sind. Mit erheblichem Aufwand und einem akribisch genauen Kritischen Bericht zur Quellenlage, den jeweiligen editorischen Entscheidungen sowie einem ausführlichen, spannenden Vorwort verdienen sie – besonders auch unter musikwissenschaftlichen Aspekten – hohen Respekt. Joachim Raff, den Joseph Hellmesberger übertrieben wohlmeinend im Range Schumanns und Beethovens sah, vollendete in den an hochwertigen Streichquartetten raren Jahren nach Schumanns Tod insgesamt acht Quartette. Keines von ihnen fand Eingang in den klassischen Kanon der im 20. und 21. Jahrhundert bedeutenden Ensembles, übrigens genauso wenig wie Louis Spohrs 36 Quartette.
Mit Raffs Tod 1882 verblasste bald seine Geltung. Im Gegensatz zu manch anderen, weniger nachvollziehbaren Bedeutungsverlusten von Tonschöpfern, findet man bei Raff selbst und seinem Werk gute Gründe dafür. Gegenwärtige, verdienstvolle Aufführungen verdeutlichen dies – trotz der Renaissance seines Namens. Er wird, wie auch fast durchgängig zu Lebzeiten, ein umstrittener Komponist bleiben, der viel, aber auch viel Durchschnittliches produziert hat. Seine Ambition, Streichquartette zu schreiben, entsprang durchaus praktischen Erwägungen, denn zur Entstehungszeit des ersten etablierte sich ein immer professionelleres öffentliches Quartettleben, auch direkt in Raffs Umfeld. Dennoch kämpfte er lange um Resonanz dafür, sowohl bei den Interpreten als auch beim Publikum.
Widmet man sich den ersten beiden Quartetten, so ist man immer wieder von glänzenden melodischen Einfällen, überraschend modernen Effekten (längeren Ponticello- und Flageolett-Passagen), Anklängen an Volkslieder, wirkungsmächtigen, durch und durch quartettmässig konzipierten Elementen gefangen genommen, die Raffs herausragende musikalische Begabung belegen. Was teilweise fasziniert (beispielsweise im Scherzo von Opus 77), verflacht Raff leider immer wieder durch ausgedehnte, ja man möchte sagen nichtssagende Episoden, die die absolut genialischen Juwelen seiner Kunstfertigkeit überschatten. Es hätte einer grösseren, formal geschlossener denkenden Meisterschaft bedurft, um diese Schwächen zu verhindern, bzw. einer kompromisslosen Konzentration auf das Wesentliche.
Es ist die Krux künstlerischen Schaffens, dass wahre Grösse sich erst formiert, wenn höchste Qualität vorherrschend ist und nicht nur zeitweise zutage tritt. Von dieser Problematik der Zweit- oder Drittrangigkeit von Musik sind einige Zeitgenossen Raffs betroffen, gerade weil sie sich aus den Fängen des beethovenschen Erbes befreien mussten, ohne epigonal zu wirken oder die Traditionen vollends aus den Angeln zu heben. Wege aus diesem Dilemma suchten die meisten auf sich alleine gestellt, dabei hätten sie viel voneinander lernen können.
Ob man Raffs Quartette mit dieser verdienstvollen Ausgabe nun mehr aufführen wird, bleibt, angesichts der online zugänglichen Erstausgabe, abzuwarten. Es gibt noch zahllose Werke, die nicht verlegt sind, beispielsweise die bis Mitte der 1850er-Jahre entstandenen, höchst beachtenswerten Quartette von Carl Czerny.
Joachim Raff: Streichquartette Nr. 1 (op. 77) und 2 (op. 90), hg. von Stefan König und Severin Kolb; Stimmen Nr. 1: EB 8939, € 41.90; Stimmen Nr. 2: EB 8940, € 41.90; Studienpartitur 1+2: PB 5622, € 39.90; Breitkopf & Härtel, Wiesbaden