Lang erwartete Neuausgabe
Schafft Hansjörg Schellenberger mit seiner Edition von Richard Strauss‘ Oboenkonzert nun Klarheit in so manchem strittigen Punkt?

Auf einer Liste von «sehnlich erwarteten» Neuausgaben stünde bei der oboespielenden Zunft das Konzert von Richard Strauss sicher ganz weit oben. Die neu erschienene Henle-Urtextausgabe weckt also grosse Hoffnungen, dass viel geäusserte Zweifel und Unklarheiten in der Boosey & Hawkes-Ausgabe nun beseitigt und eine Referenzausgabe geschaffen wurde.
Um es vorweg zu nehmen: Die vom ehemaligen Oboisten der Berliner Philharmoniker, Hansjörg Schellenberger, betreute Neuausgabe ist seriös erarbeitet und berücksichtigt als Quelle erstmals auch das Aufführungsmaterial der Erstaufführung in Zürich. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen, zu einem neuen Standard zu werden. Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass die Boosey & Hawkes-Ausgabe so schlecht nicht war, weil sie auf der gleichen Hauptquelle (nämlich der praktisch fehlerfreien autografen Partitur) beruht und gegenüber der Erstausgabe bereits mehrere Korrekturdurchgänge durchlebt hat.
Das grosse Plus der Neuausgabe ist sicher der Editionsbericht, der alle quellenrelevanten und editorischen Details erwähnt und beleuchtet. Richtig Spass macht dies in der digitalen Version der Henle Library, denn hier erscheinen sämtliche Stellen blau markiert, über die im Editionsbericht etwas geschrieben steht. In der Druckversion sind nur einige wenige (meist überflüssige) Fussnoten eingefügt, und auf gelegentlich äusserst wichtige Ossias von objektiv gleichberechtigten Lesarten wird gänzlich verzichtet. Unverständlich beispielsweise, dass eine neue Lesart im 3. Satz (T. 386) ohne Ossia oder direkte Fussnote dasteht, denn vermutlich wurde sie noch nie so gespielt und macht auch musikalisch wenig Sinn.
Dass bei Ziffer 9 und 10 viele Worte verloren werden, ob nun sfzp oder p sfz gemeint sein könnte, ist ebenfalls unverständlich. Ein Blick in die autografe Partitur zeigt eindeutig, dass Strauss die beiden Bezeichnungen nicht nebeneinander, sondern schräg untereinander schrieb. Somit ist klar, dass die Dynamik der Passage piano sein soll und sfz an dieser Stelle eine Artikulationsangabe meint, nämlich einen deutlichen Akzent. Dass in modernen Editionen alle Dynamikangaben auf derselben grafischen Ebene zu erscheinen haben, sollte man in diesem Zusammenhang dringend überdenken! Wenig glücklich scheint mir auch die Fixierung einer umstrittenen Note im ersten Fagott (zwei Takte vor Ziffer 23) auf d; gegenüber f in der bisherigen Ausgabe bedeutet es zwar eine Verbesserung, aber c (wie es in Strauss‘ Particell steht) wäre bezüglich Stimmführung und harmonischer Ausdeutung bestimmt die bessere Variante gewesen.
Erfreulich sind die Instrumentenangaben im Klavierauszug, ansonsten sind hier keine grossen Unterschiede zur früheren Edition auszumachen. Schade dagegen, dass die Erstaufnahme des Werkes (1947; Léon Goossens, Philharmonia Orchestra, Leitung Alceo Galliera) nicht als Quelle berücksichtigt wurde, da sie offensichtlich unter Verwendung der Erstausgabe realisiert worden ist und somit das einzige Tondokument mit dem ursprünglichen Werkschluss darstellt. Niemand wird diesen ersten (verkürzten) Schluss heute noch spielen wollen, dennoch wäre es interessant gewesen, wenn Henle ihn in diese Ausgabe integriert hätte, um wertvolle Einblicke in Strauss‘ kompositorische Werkstatt und sein Denken zu ermöglichen.
Richard Strauss: Oboenkonzert D-Dur, hg. von Hansjörg Schellenberger; Klavierauszug von Johannes Umbreit, HN 1248, € 24.00; Studienpartitur, HN 7248, € 15.00; G. Henle, München