Lagenspiel auf der Geige
Das im Selbstverlag herausgegebene Heft von Martin Keller wird besprochen von dessen «Kollegenfreund und advocatus diaboli».

Die Materialsammlung zum Lagenspiel von Martin Keller ist aus der intensiven Beschäftigung des Autors mit der Barockgeige hervorgegangen, die man ja mit der linken Hand und nicht mit dem Kinn festhält. Deshalb ist ein grosser Teil dem Lagenschleichen und den Halslagen gewidmet.
Der erste Eindruck ist geprägt von musikalischem und technischem Erfindungsreichtum. Eine Vielzahl von Lagenwechsel-Geheimnissen werden musizierend anregend erarbeitet. Das trifft zwei Fliegen auf einen Schlag. Das Heft enthält viel gutes Lesematerial in allen Tonarten, verschiedenen Stilen und Rhythmen, schöne Eigenkompositionen, anregende Duette. Längere Stücke, in welchen man in Schwung käme, fehlen dagegen. Die meisten Lagenwechsel-Probleme sind exakt und mit sprechenden Beispielen erhärtet. Die Benennung gewisser Praktiken durch Buchstaben wirkt allerdings etwas intellektuell. Sie sollten durch eindeutige fachliche oder bildhafte Namen ersetzt werden. Ein Plus ist die ausführliche Erläuterung und Einübung von Kontraktion und Extension. Es wird aber nicht präzisiert, dass diese Techniken nur geeignet sind für langsame, ausdrucksvolle Musik. Für schnelle Passagen sollte der zur jeweiligen Lage passende Quartgriff nicht noch mit Kontraktionen und Extensionen belastet werden, sonst leidet die Intonation. Ganz besonders gelungen sind die Teile Tonleitern und Läufe durch den Quintenzirkel S. 8 und 114/115 (exzellent!), Der Skispringer S. 13 und die Einführung ins künstliche Flageolett S. 112 und 113.
Dem Heft fehlt aber einiges, um als «Schule» zu gelten, d. h. didaktisch aufbauend zu sein:
- Das elementare Erlebnis des Griffbrettes, zuerst in seiner ganzen Länge; Armschwung seitwärts (Ellbogen) und vorwärts-rückwärts, Handgelenkbiegungen. Prinzip «vom Grossen zum Kleinen».
- Das Bewusstmachen der verschiedenen Kontakte des Fingers zur Saite in einem eigenen Kapitel: a nicht berühren (leere Saite) bei frei aufgesetzten Lagenwechseln (auch als Vorstufe zu c: Lagenwechsel mit Vorschlag der leeren Saite, um das Entlastens des Fingerdrucks zu lernen), b gleiten wie «Schlittschuh fahrende Mücke» (Flageolett(-glissando)), c lockeres Lagenwechselglissando als hörbares Tonhöhegleiten, d festes Greifen.
- Genügend Übungen und Stücke mit Lagenwechsel durch Messen des Lagenwechselintervalls des letzten Fingers der alten Lage («Taxi») zu dessen Hilfston («Taxistandplatz») in der neuen Lage mit Fingerkontakt c (siehe 2.) und erst dann entschlossenes Greifen mit dem Zielfinger. Dabei Bewusstmachen des Vorausfühlens der Zielgriffart.
- In diesen Zusammenhang gehörte auch das bewusste Umstellen des Spielfingers z. B. beim Rutschen einer grossen Terz von steil zu flach, bei einer kleinen umgekehrt.
- Nutzen der Resonanztöne für sichere Intonation.
- Wieso ist das Heft auf die ersten vier Lagen beschränkt? Meines Erachtens ist z. B. das Transponieren einer Melodie auf der (den) gleichen Saite(n) eine Oktave höher ein nützliches und deutliches Erlebnis für die Verengung des Quartgriffes (gehört eigentlich unter 1.), die ja bei allen Lagenwechseln stattfindet. Ferner sind all die wichtigen Kontakte der Hand mit dem Instrument unerwähnt und sollten alle drei bewusst gemacht werden: a 1. und 2. Lage freies Handgelenk, b 3. und 4. Lage Handgelenk am Korpus angelehnt, c 5. und höhere Lagen Daumenspanne am Halsansatz.
- Die Rolle des Handgelenk-Vor- und Zurückbiegens z. B. beim «Holen» einiger Töne in der halben Lage aus der 2. Lage und zu ihr zurück, das direkt zum echten Paganini-Lagenspiel führt (siehe Philippe Borer: The twenty-four caprices of Niccolo Paganini, their significance for the history of violin playing and the music of the romantic era, Stiftung Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich, 1997). Dort wird in vielen Beispielen gezeigt, dass Paganini sehr viele Lagen (etwa 1.–6.) aus der Handstellung der 3. Lage erreicht. Dieser Ansatz hat mir zur einfachen Lösung vieler kniffliger Stellen verholfen. Bei Keller finden sich gute ähnliche, aber kleinere Anforderungen mit sogenannten Scheinlagenwechseln, ohne aber die Rolle des Handgelenkes zu erwähnen, die erlaubt, den Arm stabil (und dadurch sicher) in einer Lage zu halten. Das Handgelenk ist auch der Motor für das Spiel zur halben Lage und zurück; der Arm bleibt in der ersten Lage.
Wenn der Autor den Lehrpersonen eine individuell passende Auswahl aus seinem Material empfiehlt, müssen diese sich bewusst sein, dass sein Material zwar wertvoll, aber nicht umfassend ist.
Martin Keller, Lagenspiel auf der Geige Einführung in die 1. (inkl. halbe) bis 4. Lage und deren Wechsel untereinander, Bewegungs- und Intonationsprobleme. Selbstverlag, erhältlich beim Autor zur Ansicht oder zum Kauf (Kopierkosten Fr. 22.50),
m.keller-rall@bluewin.ch