Bis heute strittige Tempi

Von Beethovens Klaviersonate op. 106 existieren sich widersprechende Erstausgaben und die Metronomangaben geben bis heute Rätsel auf.

Foto: Lilo Kapp/pixelio.de

«Nach Umfang und Anlage geht die Hammerklaviersonate weit über alles hinaus, was auf dem Gebiet der Sonatenkomposition jemals gewagt und bewältigt wurde», schrieb Alfred Brendel über Beethovens Opus 106. Und Beethoven selber meinte zu seinem Verleger: «Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahren spielen wird.» Ob er wohl geahnt hat, dass sie auch in zweihundert Jahren immer noch eine gewaltige Herausforderung für Spieler und Hörer darstellen wird?

Die Wiener Urtext-Edition hat das monumentale Werk eben gerade als mustergültige Einzelausgabe herausgebracht. (Eine der wenigen übrigens, die erhältlich sind.) Auch dies keine leichte Aufgabe: Von der Hammerklaviersonate existieren keine Autografen oder Abschriften, dafür diverse Erstausgaben, die sich erst noch in fundamentalen Dingen widersprechen. Die Londoner Erstausgabe beispielsweise stellt die Reihenfolge der beiden mittleren Sätze um, was Beethoven immerhin gebilligt hat. Andere Unterschiede ergeben sich aus nachträglichen Korrekturen und Ergänzungen. So bleibt die Lesart der Vorzeichen an manchen Stellen mehrdeutig bis ungewiss. Nicht zuletzt stellt sich die umstrittene Frage nach den richtigen Tempi.

Nur diese eine Klaviersonate hat Beethoven mit Metronomzahlen versehen. Und die haben es in sich! Gerade für den Kopfsatz, aber auch für die abschliessende Fuge ergibt sich daraus ein unglaublich schnelles Tempo.

Diesem Thema hat Johann Sonnleitner im Vorwort für diese Neuausgabe einen ausführlichen Abschnitt gewidmet. Er glaubt eben gerade nicht an diese herkömmliche Umsetzung der Metronomzahlen und plädiert für eine ältere, variable Messmethode. Man muss nicht unbedingt Sonnleitners Meinung sein, um seinen Ansatz trotzdem sehr spannend und lesenswert zu finden. Das gleiche gilt übrigens auch für die Fingersätze von Alexander Jenner.

Einer der ersten, der an diese raschen Tempi glaubte und sie auch zu realisieren versuchte, war Artur Schnabel, der die Hammerklaviersonate 1935 im Rahmen seiner Gesamtaufnahme einspielte. Es gelingt ihm da nicht alles comme il faut, was sicher auch an den damals begrenzten Korrekturmöglichkeiten liegt. Aber sein künstlerischer Impetus und der Klang (!) sind nach wie vor sehr beeindruckend. Wer eine gemässigtere und transparentere Interpretation bevorzugt, wird sicher Alfred Brendels Versionen mögen. Er hat sich mit dem Werk ein ganzes Pianistenleben lang beschäftigt. Erstaunlich wenige Aufnahmen gibt es von Frauen: Hier sei ausdrücklich auf jene von Maria Grinberg hingewiesen, einer grossartigen sowjetischen Pianistin, die in den Sechzigerjahren alle 32 Klaviersonaten Beethovens für Melodija aufnahm.

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Ludwig van Beethoven: Klaviersonate op. 106, Grosse Sonate für das Hammerklavier, hg. von Peter Hauschild, rev. von Jochen Reutter, Hinweise von Johann Sonnleitner, UT 50432, € 10.95, Wiener Urtext Edition, Schott/Universal Edition 2018

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