Frühromantische Orgelsonate, 2007 komponiert

Ausgehend von einem Fragment Mendelssohns schuf Rudolf Lutz ein frisches «altes» Werk.

Foto: Albrecht E. Arnold / pixelio.de

Das dem vorliegenden Werk zugrunde liegende Fragment aus der Feder Felix Mendelssohns umfasst einen Choralsatz von O Haupt voll Blut und Wunden sowie eine unvollendete Variation dazu, die nach gut 26 Takten abbricht. Es ist nicht mit Sicherheit belegt, dass Mendelssohns Fragment mit jener Improvisation im Zusammenhang steht, die er am 6. August 1840 in der Leipziger Thomaskirche spielte und über welche Schumann berichtet: «Den Schluss machte eine Phantasie Mendelssohns (…); sie war auf einen Choral, irr’ ich nicht, auf den Text ‹O Haupt voll Blut und Wunden› basirt, in den er später den Namen Bach und einen Fugensatz einflocht, und rundete sich zu einem so klaren, meisterhaften Ganzen, dass es gedruckt ein fertiges Kunstwerk ergäbe».

Anlässlich einer Konferenz in Leipzig diente das Fragment dem St. Galler Organisten und Stil-Improvisationsspezialisten Rudolf Lutz zunächst als Grundlage für eine improvisierte Fassung, die dann in einem zweiten Arbeitsschritt zur hier publizierten schriftlichen Ausarbeitung wurde. Ein interessanter Arbeitsbericht, publiziert im Kongressbericht Diess herrliche, imponirende Instrument – Die Orgel im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys (Breitkopf und Härtel 2011, inkl. Einspielung der Sonate), dokumentiert Lutz’ Vorgehensweise und zeigt eindrücklich, wie sich analytisch-stilkundliche Überlegungen zum mendelssohnschen (Orgel-)Komponieren und der kreative Zugriff des erfahrenen – und insbesondere (wie Mendelssohn) an Bach geschulten – Improvisators durchdringen, gegenseitig anregen und ergänzen. Das Resultat: ein gut viertelstündiges Werk, das ein willkommenes Pendant zu den sechs «kanonischen» Sonaten Mendelssohns darstellt und sich (nicht zuletzt durch einige charmante Anklänge an originale Werke des Komponisten) dessen Idiom perfekt annähert. Trotz aller Kunstfertigkeit entsteht aber nie der Eindruck eines «über-komponierten» Satzes; die Sonate behält die Frische und den Impetus einer hervorragenden Improvisation.

Spieltechnisch sind die drei Sätze ungefähr im Bereich der schwereren (3./4.) Sonaten Mendelssohns anzusiedeln. Auch wenn von 18 Partiturseiten nur gerade deren zwei auf Mendelssohn zurückgehen und der Rest erst 2007 entstanden ist. Mit dieser «neuen» Sonate dürfte das Repertoire der deutschen Frühromantik eine interessante Bereicherung finden!

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Felix Mendelssohn Bartholdy / Rudolf Lutz. Sonate in d über «O Haupt voll Blut und Wunden» für Orgel MWV W 27, Edition und Ergänzung eines Fragments aus der Bodleian Library Oxford. Carus 18.120/00, € 15.50, Carus Verlag, Stuttgart 2013

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