Eine Träne für die Menschheit

Für den Filmessay «Passion» von Christian Labhart hat Philippe Herreweghe mit seinem Collegium Vocale Gent Teile aus Bachs Matthäuspassion neu aufgenommen.

Filmstill aus «Passion»

Die Messlatte wird gleich zu Beginn hoch gelegt. Zum schwarzen Bildschirm rezitiert eine Stimme aus dem Off Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen aus der Zeit des Nationalsozialismus, dann marschiert eine Hundertschaft schwer gerüsteter Polizisten zu den Klängen von Bachs Matthäuspassion durchs Bild. Die Fallhöhe ist entsprechend: Ein Schnitt, und wir sind am Zürcher Central, wo wir uns 1968 mit der Polizei geprügelt haben – linke Nostalgie in Schwarzweiss. Für Christian Labhart war das die politische Initialzündung. Sein Film ist die typische Autobiografie eines Schweizer Linken, der vor fünfzig Jahren Marx und Adorno las und trotz schwerer Zweifel bis heute an der Utopie vom «richtigen Leben im falschen» festhält. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Sackgasse Baader-Meinhof, Tschernobyl, 9/11, Finanzkrise, Roboter, Syrien, Globalisierung, kaputte Umwelt: ein Abreisskalender des Schreckens, eine permanente Dystopie, aufbereitet mit paradox schönen Bildern aus der sinnentleerten Dingwelt. Wenn Menschen als Individuen vorkommen, dann der Autor selbst und sein Umfeld, ansonsten sind sie anonyme Masse – der Fluch des Denkens in abstrakten Menschheitskategorien. Das unbedingte Ja zum Leben, wie es etwa in Afrika den Alltag der Menschen prägt, ist diesem vom Leiden an der Welt durchzogenen Filmessay fremd.

Als Balsam für die verletzte Seele erklingen Ausschnitte aus der Matthäuspassion mit Philippe Herreweghe und seinem Collegium Vocale Gent. Hier verrichten Menschen eine sinnerfüllte Tätigkeit, ein schroffer Kontrast zu den Bildern einer kaputten Welt. Doch mit Bach scheint Labhart einem Missverständnis aufgesessen zu sein. Durch die weltliche Umcodierung der Passion schlägt das hohe Pathos des religiösen Leidens in profanes Selbstmitleid um, und anstelle von Christus wird dann eben Ulrike Meinhof betrauert. «Was bleibt?», lautet der letzte Zwischentitel. Bachs Schlussmusik gibt die Antwort: «Wir setzen uns mit Tränen nieder.» Ein bisschen mehr hätte es schon sein dürfen.

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Passion. Zwischen Revolte und Resignation,ein Film von Christian Labhart. LookNow-Filmverleih.
Ab 18. April im Kino

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