Musik in der Fremde

Der Sammelband «Musik und Migration» liefert sowohl Begriffsklärungen wie längere Aufsätze aus diesem vielverzweigten Forschungsgebiet.

Foto: Anke van Wyk / depositphotos.com

Wird die vom Krieg geschüttelte Heimat zur Lebensbedrohung oder reicht das Geld zum Leben nicht mehr, dann ist Flucht oft die einzige Wahl. Doch was geschieht im anderen Land? Also dort, wo Flüchtlinge von ihrer eigenen Kultur abgeschnitten sind? Und wo sie im noch schlimmeren Fall nicht willkommen sind?

Es sind kulturpolitisch äusserst wichtige Fragen, die Musik und Migration behandelt. Musik ist seit je ein bestimmender Identitätsfaktor. Und daher verwundert es nicht, wenn Migranten oder Flüchtlinge Musik ihrer Heimat – seien es Volkslieder, Rap in der eigenen Sprache oder Pentatoniken aus dem eigenen Kulturraum – weiter hören und pflegen. Liest man die Aufsätze des umfangreichen Sammelbandes, kommt anderes hinzu: Musik lindert das Leid, auch dient sie der Traumaverarbeitung. Auf Seite 215 berichten Anna Papaeti und M. J. Grant von einem syrischen Geflüchteten. Bei seiner Bootsankunft in Griechenland stimmt er «eine Mischung aus Klagegesang und Gebeten» an, gerichtet an das Meer, das aufhören möge, «Kinder in seinen Wellen zu töten».

Solche drastischen Situationen sind nur ein Aspekt des hochkomplexen Themas Musik und Migration. Hinzu kommen Fragen und Probleme der «multikulturellen Gesellschaft», Aspekte der Kulturen-Aneignung inklusive das momentan seltsame Blüten treibende Feld Postkolonialismus. Die Herausgeber des dicken, 746-seitigen Sammelbands taten gut daran, «Schlüsselbegriffe» in Lexikon-Manier zu erklären, und zwar nicht nur «Postkolonialismus», sondern viele aus der Ethno- oder Soziologie entlehnte Termini wie «Agency», «Embodiment» oder «Liminalität». Grundsätzlich ist das Forschungsfeld auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, also tendenziell eher in den «Cultural Studies» zu verorten als in der gediegeneren Musikwissenschaft. Die Lektüre macht dies stellenweise schon fordernd. Zum einen aufgrund schwer zu fassender Probleme, zum anderen aufgrund kaum etablierter Forschungsmethoden.

Dennoch: Viel kann man mitnehmen nach dem Lesen. Unter anderem auch die Einsicht, dass musikalische Akkulturationsprozesse, also Durchdringungen verschiedener Kulturen, völlig normal sind. Begriffe vom «Eigenen» und «Fremden» sind nur Hilfskonstruktionen – und damit sind auch schon jene Patrioten, Nationalisten und zuweilen allzu selbstbewussten Europäer entlarvt, deren Rufe nach einer «Leitkultur» oder nach kultureller «Reinheit» bestenfalls blödsinnige Verkürzungen sind. Wie schreiben Katarzyna Grebosz-Haring und Magnus Gaul auf Seite 25? Schon Plato diskutiert das Phänomen der Akkulturation. Und das im 3. Jahrhundert vor Christus!

Musik und Migration, Band 3, ein Theorie- und Methodenbuch, hg. von Wolfgang Gratzer, Nils Grosch, Ulrike Präger und Susanne Scheiblhofer, 746 S., € 69.90, Waxmann, Münster 2023, ISBN 978-3-8309-4630-4, open access

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