Meilenstein der Forschung
Aus seinen Forschungen zu Hans Georg Nägeli hatte sich Martin Staehelin eine Lebensaufgabe gemacht. Nun liegt das biografische Gesamtbild vor.
Es kommt nicht häufig vor, dass man vierzig (40) Jahre auf ein Buch wartet. Von Martin Staehelins Biografie des Zürcher Musikers Hans Georg Nägeli (1773–1836) erfuhr ich erstmals im Frühjahr 1983. Nun liegt es da, das Opus ultimum des geachteten Schweizer Musikwissenschaftlers, der sich sein Leben lang mit Nägeli und dessen Zürcher Umfeld beschäftigt hat. Dass Nägeli «Sängervater», Komponist, Verleger, Bach-Verehrer, Musikästhetiker war und mit Beethoven korrespondierte, wusste man, aber dass der Ideenmensch Nägeli sich darüber hinaus an pädagogische, philosophische und theologische Themen heranwagte, dichtete, theoretisierte und sich in die Politik einmischte – aber nicht der Komponist von Freut euch des Lebens war – , das erfährt man aus Staehelins umfassender Studie.
Sie beruht ganz auf Schriftquellen, vor allem aus Nägelis Zürcher und Winterthurer Nachlässen, bezieht aber eine Unmenge an zeitgenössischen Schriften und entlegener Sekundärliteratur ein. Dabei ist der 640 Seite starke Textteil leicht zu lesen, zwar detailgenau, aber nie langfädig, und der Autor versteht es, die Lesenden sicher durch das Labyrinth seiner weitreichenden Gedanken zu führen. Noch nicht veröffentlichte Texte von Hans Georg Nägeli liefert ein digitaler Band II, der kostenlos heruntergeladen werden kann.
Dass dieses doppelte Nägeli-Monument infolge der Erkrankung seines Autors nur dank kundiger Unterstützung von Helferinnen veröffentlicht werden konnte, merkt man dem Buch kaum an. Dennoch scheint es, als würden Martin Staehelin und seine Co-Autorinnen es bedauern, seinen diversen Aufforderungen zu vertiefteren Detailstudien nicht selbst nachkommen zu können. Das Warten hat sich gelohnt: Das Buch ist nicht nur ein Lebenswerk, sondern ein Meilenstein der schweizerischen Musikgeschichtsschreibung.
Martin Staehelin: Hans Georg Nägeli (1773–1836). Einsichten in Leben und Werk, Band I, 789 S., Fr. 90.00, Schwabe, Basel 2023, ISBN 978-3-7965-4746-1