Das neue BWV3
Die dritte, erweiterte Neuausgabe des Bach-Werke-Verzeichnisses bezieht die Forschung der letzten 30 Jahre ein und schlägt eine neue Art der Differenzierung vor.
Dass die BWV-Zahlen, mit denen Bachs Kompositionen identifiziert werden, aus dem Bach-Jahr 1950 stammen, ist selbst vielen professionellen Musikerinnen und Musikern nicht bewusst. Wolfgang Schmieder klassifizierte damals Johann Sebastian Bachs Schaffen nach Gattungen und vergab die Zahlen entlang der Reihenfolge der einzelnen Stücke in der alten Bach-Ausgabe (1851–1899). Schmieders epochemachende Leistung erfuhr 1990 eine aktualisierte Neuauflage. Schon 1998 legten die Bach-Forscher Alfred Dürr und Yoshitake Kobayashi ihre verknappte Alternative vor.
Seither ist viel passiert in der Bach-Forschung: Neue Quellen sind aufgetaucht, Echtheitszweifel wurden erhoben oder beseitigt, Datierungen bestätigt oder korrigiert usw. Die Bach-Literatur ist ins Unermessliche angewachsen, und das Internet gewährt Volltexte, Bibliografien und sogar Originaldrucke und -handschriften. Ein neuerlich revidiertes und auf den aktuellen Stand gebrachtes BWV konnte nicht mehr von einem Einzelnen geleistet werden, ein ganzes Institut, das Bach-Archiv Leipzig, stand hinter den drei Hauptautoren, und die Arbeiten zogen sich über mehr als zehn Jahre hin. Daraus entstand ein 880 Seiten starker Band, der immer noch Schmieders Gattungskategorien folgt, die längst eingebürgerten Zahlen übernimmt und neu aufgefundene Werke in fortlaufender Zählung dort einreiht, wo sie ihrer Funktion und Besetzung nach hingehören. Neu sind auch eine systematische, nicht konsequent den BWV-Zahlen folgende Übersicht über Bachs gesamtes Schaffen und diverse Konkordanzen und Kataloge, etwa von Bachs (rekonstruierbarer) Notenbibliothek. Neu an diesem Verzeichnis ist die Aufspaltung in verschiedene Fassungen eines einzelnen Werkes. So gliedert sich die Werkgeschichte der Kantate Schwingt freudig euch empor in die Stadien 36.1 bis 36.5, und die beiden Fassungen der Kantate 82 für Bass bzw. Sopran sind als 82.1 und 82.2 ausgewiesen. Damit soll dem Wildwuchs der Ergänzung von BWV-Zahlen um a-, b- bzw. r-Bezeichnungen Einhalt geboten werden.
An seine Grenzen stösst dieses Verfahren, wenn gewisse reinschriftliche «Brandenburgische» Konzerte beispielsweise als BWV 1046.2 zu bezeichnen sind, weil zu ihnen eine Frühfassung 1046.1 besteht, während für andere schlicht eine vierstellige Zahl gilt, etwa BWV 1047. Was gänzlich entfallen ist, sind die Literaturhinweise zu einzelnen Werken, da hier nun die Online-Kataloge einzuspringen vermögen. Dennoch geht auch ohnedies die Verknappung der wissenswerten Erläuterungen so weit, dass es in komplizierteren und deswegen auch interessanteren Fällen detailreicher Kenntnis bedarf, um sie überhaupt einigermassen nachvollziehen zu können. Ob damit in Sachen Benutzerfreundlichkeit Fortschritte erreicht worden sind, darf bezweifelt werden. Wie die in der Verlagswerbung angekündigte «Verschränkung mit den einschlägigen Online-Datenbanken» verwirklicht ist, wird nicht ersichtlich.
So bleibt auch dieses BWV3 angesichts seines Kaufpreises wohl eher Sache weniger Spezialistinnen, während für Praktiker heute die einfache Identifikation der Werke durch die allgemein üblichen Zahlen getrost mit Hilfe des Internets oder der gängigen Werkausgaben erfolgen kann.
Christine Blanken, Christoph Wolff, Peter Wollny: Bach-Werke-Verzeichnis. Dritte, erweiterte Neuausgabe (BWV3), XLIV + 835 S., € 459.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-7651-0400-8