Hören mit allen Sinnen, Geist und Seele

Michael Heinemann betrachtet Beethovens Musik in seinem Buch mit einem Hörbegriff, der weit über das rein Akustische hinausreicht.

Bronzebüste im Garten des Beethoven-Hauses in Bonn. Foto: Mrieken / wikimedia commons

Der Begriff «Ohr» steht in dieser Publikation für die Wahrnehmung von Musik jenseits der rein akustischen Phänomene, also nicht nur mit dem «Gehör». Hören meint nicht bloss wahrnehmen und verstehen, sondern weit mehr noch empfinden und spüren, berührt und ergriffen werden. Beethoven und sein Werk erschliessen uns diese Dimension der Musik als buchstäblich sinnlich zu erlebende Kunst.

Als erfahrener Komponist «hörte» Beethoven zweifellos jeden Notentext innerlich. Sinnlich wahrnehmen konnte er Musik einerseits mittels des ihm verbliebenen Hörvermögens, andererseits haptisch über seine Finger auf den Klaviertasten. Es gibt aber, so der Verfasser dieser Studie, auch den Konnex von Körper und Klang: Die Vibrationen und Resonanzen extremer Akkordlagen und Registerwechsel (wie etwa im ersten Satz der Waldsteinsonate) werden somatisch aufgenommen. Dazu kommt Beethovens Imagination neuer Klangwelten, die in bestimmten Akkorden und Pedalangaben die Obertöne in die Klanggestaltung miteinbezieht. Die Forcierung des inneren Hörens eröffnet auch das Transzendente jenseits der Töne. E.T.A. Hoffmann rühmt Beethoven dafür, uns das «Geisterreich des Unendlichen» erschlossen zu haben. Diese sinnlich vermittelten Sphären erheben Beethovens Musik in den Rang einer Philosophie.

Der Dresdner Musikwissenschaftler Michael Heinemann zeigt anhand vieler Notenbeispiele die verschiedenen Parameter dieser Klangwelt. Seine in wissenschaftlicher Sprache abgefasste Arbeit bleibt letztlich Spekulation, vermittelt uns aber anhand der aufgeführten Beispiele und deren Analysen, die auch Metabereiche berücksichtigen, neue Einblicke in Beethovens Musik. Die 130 Seiten Text werden in elf Kapitel unterteilt mit Überschriften wie «Körperbewusstsein», «Verstehen» oder «Fassen», gefolgt von deren enzyklopädischer Definition. Weitere 25 Seiten bringen Originaldokumente zu Beethovens Taubheit: Auszüge aus seinen Konversationsheften, Schriften und Briefen nebst Berichten seiner Zeitgenossen.

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Michael Heinemann: Beethovens Ohr. Die Emanzipation des Klangs vom Hören, 156 S., € 19.80, Edition Text + Kritik, München 2020, ISBN 978-3-96707-452-9

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