Deutungsfragen

Diese Publikation der Hochschule der Künste Bern dreht sich um die Erforschung von Aufführungs- und Interpretationstraditionen mit besonderem Blick auf Beethoven.

Beethoven-Denkmal in Leipzig von Max Klinger. Wikimedia commons

Der Begriff «Interpretation» bedarf der Interpretation. Er kann die Aufführungspraxis betreffen, die kompositorische Rezeption, auch Musikkritik, ja selbst die gern sich sachlich-wissenschaftlich gebende Analyse eines Werks. Bewusst breit ist er daher angelegt, der von der Hochschule der Künste Bern herausgegebene Sammelband Rund um Beethoven– Interpretationsforschung heute. Mehr als 500 Seiten und 30 Aufsätze bieten Gedanken und Ergebnisse zu solch heiklen Fragen, wie Ludwig van Beethoven früher geklungen haben könnte, wie Richard Wagners Dirigiergewohnheiten der Neunten aussahen, wie es um kreative kompositorische oder musiktheatralische Aneignung steht.

Warum Beethoven im Zentrum steht, lässt sich trefflich beantworten: Klar, das Jubiläum spielt eine Rolle. Zudem gibt es viel Material. Aufführungspraktische Erwägungen aus dem 19. Jahrhundert gehören dazu, diverse Notenausgaben, auch einige sehr frühe Einspielungen auf den Aufnahmeapparaten der Firma Welte-Mignon oder der Konkurrenzfirma Hupfeld. Erhellend sind Manuel Bärtschs Betrachtungen zweier Interpretationen von Beethovens Klaviersonate A-Dur op. 101. Zum einen handelt es sich um eine Aufnahme des Liszt-Schülers Eugen d’Albert auf dem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier, zum anderen um Frederic Lamonds Interpretation auf der so genannten Animatic-Rolle von Hupfeld. Die um 1910 entstandenen Einspielungen lassen sich mit einem – offenbar obsoleten – Begriff von «Werktreue» nicht in Einklang bringen. Eher entsteht der Eindruck einer lustvoll-spielerischen Beethoven-Aneignung, in der sich, wie es Bärtsch ausdrückt, «Traditionsreste, Eigengesetzlichkeiten, kreative Aneignung und physische Gegebenheiten spiegeln». (S. 69)

Bärtschs Verdienst ist es, die Probleme einer aufführungsorientierten Forschung nicht zu verschweigen. Sie stützt sich auf Momentaufnahmen, geprägt von besonderen Situationen (nicht selten nahmen Interpreten Rücksicht auf technische Unzulänglichkeiten der frühen Apparate), von divergierenden Traditionen, auch von individuell-subjektiven Lebensverläufen. Bände spricht der Hinweis des Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow, ein Schüler möge doch nicht seine, also Bülows, Notenausgabe verwenden: «Ich rathe Ihnen aber doch, Klindworth’s Ausgabe zu nehmen; dort finden Sie all das Gute meiner Ausgabe, das Überflüssige ausgeschieden, das Irrige verbessert.» (S. 113)

Mit Interpretationsfragen im Sinne einer «kreativen Aneigung» stossen Autoren bis in die Gegenwart vor. Michelle Ziegler beschäftigt sich mit Mauricio Kagels «Rettungsversuch im Jubiläumjahr», das heisst, mit Kagels durchaus aktuellen Gedanken zur Beethoven-Instrumentalisierung und -Vereinnahmung zu dessen 200. Geburtstag im Jahr 1970. Während Ziegler eine bündige Darstellung sowohl des damaligen Klimas wie auch von Kagels durchaus mokant-schelmischer Ästhetik gelingt, bleiben die eher journalistischen Ausführungen von Simeon Thompson nebulös. Sein Thema lautet «Beethoven und der Zweite Weltkrieg in der künstlerischen Reflexion der Nachkriegszeit». Fraglich bleibt schon die – weder zeitlich noch thematisch überzeugende – Gegenüberstellung von Rolf Liebermanns 1952 in Basel uraufgeführter Oper Leonore 40/45 und des Filmes A Clockwork Orange, den Stanley Kubrick 1972 in die Kinos brachte. Tenor scheint jedenfalls zu sein, dass Liebermann die Beethoven-Rezeption im Zweiten Weltkrieg verharmlost, während Kubrick offenbar berechtigter die Gewalt in und um Beethoven thematisiert.

Solch fragwürdige Zuspitzungen sind die Ausnahme in einem Sammelband, der einen umfassenden Beitrag liefert zum Stand heutiger Interpretationsforschung. Ausgesprochen edel ist die Ausgabe der Edition Argus, mehr als gründlich wirkt das Lektorat der Texte, die vorwiegend einem 2017 von der Hochschule der Künste Bern veranstalteten Symposium entstammen.

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Rund um Beethoven. Interpretationsforschung heute, hg. von Thomas Gartmann und Daniel Allenbach, 533 S., € 63.00, Edition Argus, Schliengen 2019, ISBN 978-3-931264-94-9, kostenloses PDF

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