Fordernd und frisch

In seinem Beethoven-Buch legt Hans-Joachim Hinrichsen dar, wie wichtig das geistige Klima des frühen 19. Jahrhunderts für das Verständnis der Musik ist.

Foto: Hof und Garten des Beethoven-Hauses Bonn. Foto oben: Hans Weingartz/wikimedia commons

Beethoven, immer wieder Ludwig van Beethoven. Bände wurden geschrieben über den Bonner Meister, über diesen Inbegriff des Kunstgenies, der Generationen begeisterte, der Trost spendete, der dem Klavieranfänger so hübsche Stückchen lieferte wie die Mondschein-Sonate oder Pour Elise. Wer sich erneut und intensiv mit Beethoven beschäftigt, dem muss man erst einmal sagen: Respekt vor dieser Herkulesarbeit! Hans-Joachim Hinrichsen, emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, wühlte sich nicht nur durch kaum überschaubare Literaturberge. Er ging auch wohltuend direkt auf Beethoven zu, indem er sich an den Notentexten rieb wie auch an manchem vom «Meister» überlieferten Kommentar.

Beethovens hoher Reflexionsgrad durchzieht das fast 400-seitige Buch wie ein roter Faden. Hinrichsen betont wiederholt das geistige Klima des frühen 19. Jahrhunderts, das wesentlich geprägt ist von Immanuel Kants Philosophie. Die Engführung von Aufklärung und Beethovens Musik ist nicht neu, aber überzeugend. In der Tat spiegelt sich Kants Leitspruch «Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen» in einem Œuvre, das den aktiven Zuhörer forderte und noch immer fordert. Hinrichsen belegt es nicht hörend, sondern am Notentext. Seine Analysen setzen einiges musiktheoretisches Wissen voraus. Den interessierten Laien dürfte das abschrecken, selbst der intime Beethoven-Kenner hätte sich stellenweise mehr Emotion und Begeisterung gewünscht. Ein mancherorts packender Tonfall («hinreissendes Werk») versickert leider zu oft in sophistischen Erörterungen in verwickelt-musikwissenschaftlichem Schreibstil: «Die Kadenzierungen nach e-Moll (zwei Mal in der Introduktion [T. 12, T. 28], einmal in der Fuge [T. 166 ff.]) erhalten ein strukturelles Gegengewicht durch zweimalige Rückung nach Es-Dur in der Coda bzw. Stretta [T. 210 ff., T. 257 ff.], sodass die Tonika, ähnlich wie in den Ouvertüren Leonore II und III, von ihren Grossterz-Medianten gleichsam symmetrisch eingerahmt erscheint.» (S. 258)

Aus der Wissenschaftsperspektive erklärt sich auch der Korrekturwunsch verbreiteter, leider auch zementierter Missverständnisse. Hinrichsen kritisiert manche Beethoven-Interpretation Theodor W. Adornos ebenso zu Recht wie die Annahme, dass die geraden Sinfonien den ungeraden nicht gewachsen seien. Zudem macht er sich für manch Vernachlässigtes stark. Überzeugend belegt der Musikforscher das Aussergewöhnliche der – zwischen der grossen Waldstein-Sonate und der Appassionata versteckten und «skandalös unbekannten» – Klaviersonate op. 54 oder des zweiten Satzes des Rasumovsky-Quartetts op. 59/1. Nach der fordernden Lektüre geht man gerne zum Plattenregal und hört sich die Werke mal wieder an. Und was kann sich Hinrichsen am Ende mehr wünschen, als Neugierde zu schaffen und das Hören aufzufrischen?

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Hans-Joachim Hinrichsen: Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit, 386 S., € 39.99, Bärenreiter, Kassel 2019, ISBN 978-3-7618-7091-4

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