Erkenntnis durch die Finger

Eine Forscherkreis um Herausgeber Markus Schwenkreis hat sich mit Improvisation und nach historischen Quellen beschäftigt und dabei der Erfahrung bei Spielen grossen Wert beigemessen.

Ausschnitt aus dem Titelblatt

Der Titel verspricht viel: ein Kompendium über das Improvisieren und Fantasieren im 17. und 18. Jahrhundert, ein geradezu abenteuerliches Unternehmen, denn der Anspruch ist hoch, wo wir doch aus jener Zeit keine direkten Zeugnisse zu dieser Musizierpraxis haben: keine Platten und keine MP3, nur Noten, Berichte und Traktate. Tatsächlich aber haben der Organist Markus Schwenkreis und ein Musikerkreis aus der Schola Cantorum Basiliensis (Forschungsgruppe Basel für Improvisation) da Hochspannendes zusammengetragen: über das Aussetzen einer Generalbasslinie oder eines feststehenden Bassgerüsts, über Kadenzen und Präludien, auch über Tanzsuiten und Fugen, über Choralharmonisierungen und die Zwischenspiele zwischen den Liedversen und überhaupt über die Musik als rhetorische Kunst. Eine ausführliche Bibliografie, ein Glossar und zahlreiche Notenbeispiele sind ein- und angefügt. Denn die tote Theorie wird, wenn möglich, auch gleich in lebendige Praxis umgesetzt. Das unterscheidet dieses grossformatige Compendium von den zahlreichen musikwissenschaftlichen Aufsätzen über historische Improvisierweise, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Und das erscheint mir auch als das Abenteuerliche und Wichtigste an diesem Buch: Die Erkenntnis stammt aus der Erfahrung; das Wissen haben sich die Spielend-Schreibenden er-improvisiert; es ging gleichsam durch ihre Finger.

Um ein Beispiel herauszugreifen: Das Formschema einer Fuge, wie es im französischen Orgelunterricht vermittelt wurde, schien Gaël Liardon schon immer etwas einseitig, weil es selbst mit der bachschen Musik, der es zu folgen vorgab, nur wenig gemein hatte. Also untersuchte der 2018 verstorbene Organist aus Lausanne, ein Schüler des Improvisationspioniers Rudolf Lutz, ein anderes Modell, dasjenige der so leichtfüssigen, luziden, scheinbar einfachen und doch höchst originellen Fugen Johann Pachelbels. Er analysierte sie, versuchte sie improvisierend nachzuschöpfen, stiess an seine Grenzen, entdeckte Kniffe und Besonderheiten im Umgang damit und experimentierte sich so in die Analyse hinein. So wird Pachelbel vielleicht selber einst sein Verfahren erarbeitet haben, wer weiss? Das scheint mir eine wunderbare Grundlage für ein dem Gegenstand angemessenes Verfahren, eine Verbindung von Pädagogik und Virtuosität – und dafür, wie die Improvisation selbst in der Musikwissenschaft endlich ihren bedeutenden Platz einnimmt.

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Compendium Improvisation. Fantasieren nach historischen Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. von Markus Schwenkreis, Basel, 408 S. Notenbeispiele, Fr. 74.00, Schwabe, Basel 2018; ISBN 978-3-7965-3709-7

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