Ein für die Componisten gefährlicher Dichter

Über 3000 Musikwerke hat Georg Günther in seinem Kompendium aufgelistet: alles Vertonungen von Texten Friedrich Schillers.

Schiller-Denkmal in Mainz. Foto: Dieter Schütz/pixelio.de

Neben dem 500-seitigen Verzeichnis der Vertonungen von Texten Alexander Puschkins, das Ernst Stöckl 1974 für den Verlag VEB Leipzig zusammengestellt hat, präsentiert sich das Kompendium von Georg Günther zu den Schiller-Vertonungen mit seinen über tausend Seiten noch komfortabler. Bescheiden dagegen nimmt sich das Verzeichnis der Goethe-Vertonungen aus, das Willi Schuh vor mehr als 60 Jahren vorgelegt hat. Dennoch war Schiller anscheinend nur im 19. Jahrhundert der am häufigsten vertonte deutsche Dichter. Goethe, Heine, Eichendorff oder Rückert haben ihn später «überrundet». Es hiess aber schon zu Schillers Lebzeiten, dass er «ein für die Componisten gefährlicher Dichter» sei, da er sich zu viele Freiheiten im Versmass nehme oder seine Lyrik sich zu sehr an den Verstand statt an das Gefühl richte. Aber immerhin sind 3053 Objekte von Schiller aufgelistet, welche auf irgendwelche Weise mit Tönen kombiniert worden sind.

Man könnte denken, dass auch in der Schweiz Festgesänge, Schiller-Kantaten, Schiller-Märsche und Fest-Ouvertüren in den Jubeljahren Konjunktur hatten, der Wilhelm Tell war ja auf verschiedene Weise musikalisierbar. Auffällig ist aber die reservierte Haltung der Schweizer Komponisten: Hans Georg Nägeli ist mit 13 Nummern vertreten, Lothar Kempter mit vier Vertonungen, Heinrich Sutermeister mit einer Kantate (ein Kompositionsauftrag der Schweizer Landesausstellung 1964), von Hans Huber ist eine Tell-Sinfonie für grosses Orchester (1881) aufgelistet, von Paul Huber ein einziges Lied für Sopran, Klavier und Horn (1966). Weder Arthur Honegger, Othmar Schoeck, Peter Mieg, Albert Moeschinger noch Rudolf Kelterborn haben sich mit Schiller beschäftigt.

Auf der Suche nach dem Namen von Arthur Honegger bin ich aber auf Otto Jägermeier (1879–1933) gestossen, der auf Seite 605 mit einem hübschen Werktitel aufgelistet ist: Marie Tell et Guillaume Stuart à Reims. Tragédie à la Potpourri en forme d’une Mélodrame après Frédéric Rellisch. Textbearbeitung Joe G. Weth. Deklamation mit Klavierbegleitung und drei obligaten gedämpften Zimbeln. Schön, dass der Name Jägermeiers den Weg auch in diese lexikalische Aufbereitung gefunden hat; er, der 1972 im Riemann-Musiklexikon erstmals aufgetaucht ist, ohne je existiert zu haben, und doch heute in beinah allen einschlägigen Lexika zu finden ist! Dies alles ist dem Autor des Schiller-Kompendiums bestens bekannt; er fügt deshalb dem Werktitel eine umfangreiche Information bei, worin selbst er noch neue Details beisteuern kann und damit das Spiel, das Herbert Rosendorfer vor beinahe 50 Jahren in Gang gesetzt hat, noch um eine Runde erweitert. Übrigens ist Otto Jägermeier 1933 in Zürich gestorben und liegt auf dem Friedhof Fluntern begraben, nicht unweit von James Joyce.

Zu den Entdeckungen in diesem Buch gehört auch, dass Jürg Kienbergers Tell-Schauspielmusik von 2012 schon erwähnt ist und dass Arnold Schönberg nach 1883 eine Fantasie über Die Räuber für grosses Orchester geschrieben habe, deren Material aber verschollen sei. Noch viel ergiebiger aber ist der Umweg über Rossinis Guillaume Tell zu den von der Zensur erzwungenen sieben alternativen Titeln: Hofer, the Tell of the Tyrol für London 1830, Andreas Hofer deutsche Fassung für Berlin 1830, Le Governatore Gessler e Guglielmo Tell für Lucca 1831, Karl Smily (Karl der Kühne), russische Fassung für Sankt Petersburg 1836, Guglielmo Vallace für Mailand 1836, Rodolfo di Sterlinga für Rom 1840 und Carlo il Temerario für Sankt Petersburg 1847. Ausserdem werden bei der Bearbeitung des Wilhelm Tell von Julius Kapp aus dem Jahre 1934 die Änderungen aufgezeigt, welche «durch die aktuellen Ereignisse in Deutschland» notwendig geworden waren, um der nationalsozialistischen Ideologie Genüge zu tun: «Ich habe absichtlich das Schweizer Lokalkolorit auf das Mindestmass beschränkt und den Freiheitskampf eines Volkes und das Schicksal seines Führers allgemein menschlich zu gestalten versucht», schrieb Kapp über seine Adaption. Im Weiteren erfährt man von ihm auch, dass massive Eingriffe in die Musik vorgenommen worden sind.

Das umfangreiche Material der über 3000 Werke von 1700 Komponisten ist benutzerfreundlich unterteilt, mit Register und allen zur Verfügung stehenden Verlagsangaben versehen. Schade ist nur, dass im E-Book keine Suchfunktion für Namen und Titel integriert ist; nur die einzelnen Kapitel können direkt angesteuert werden.

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Georg Günther: Friedrich Schillers musikalische Wirkungsgeschichte – ein Kompendium,
1070 S., E-Book Fr. 114.50, Hardcover Fr. 134.00,
Verlag J. G. Metzler, Stuttgart 2018,
ISBN 978-3-476-04620-8

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