Facetten der Virtuosität

Rund um den Geiger Heinrich Wilhelm Ernst wird das Thema in diesem englisch- und deutschsprachigen Sammelband sehr breit betrachtet. Eine CD mit Musikbeispielen rundet die Publikation ab.

Eine Matinee bei Liszt. V. li.: Joseph Kriehuber, Hector Berlioz, Carl Czerny, Franz Liszt, Heinrich Wilhelm Ernst. Stich von Joseph Kriehuber (1846). Bibliothèque nationale de France/wikimedia commons

Im letzten Jahrzehnt hat sich der Begriff Virtuosität ausgeweitet von den Virtuosen und deren Werken zu umfassenderen Fragen einer neuen künstlerischen Landschaft und neuer Aufführungspraktiken. Ausgangspunkt dieses Buches, dessen Bezugspunkt der Geiger und Komponist Heinrich Wilhelm Ernst (1814–1856) bildet, war die Tagung «Der lange Schatten Paganinis» im November 2015 in Göttingen. Die zur Hälfte englischen, zur Hälfte deutschen Abhandlungen der 19 Autorinnen und Autoren liefern Rück- und Ausblicke und sind geordnet in sechs Sektionen: Verschiedene Konzepte von Virtuosität, Musikalischer Text und Aufführung, Salon versus Konzertsaal, Das weite Feld der virtuosen Aufführungspraxis, Virtuosen-Karrieren, Auswirkung in Presse und Literatur. Darüber kurz zu berichten ist fast unmöglich! Daher wähle ich einige spannende Höhepunkte aus:

H. W. Ernst ist der in ganz Europa herumtourende Interpret seiner virtuosen Kompositionen, der finanziell auf volle Säle (und sie sind übervoll!) angewiesen ist. Er ist der Gegenpol von Joseph Joachim, dem ernsthaft für Werktreue kämpfenden Musikprofessor. Beide sind Wunderkinder und etablieren sich im 19. Jahrhundert im immer bürgerlicher werdenden Europa, wie Chopin, Auer, Paganini, Liszt, Thalberg, Saint-Saëns, Vieuxtemps, Sivori und Kreisler, als romantische Heroen in den Sälen und Salons. Virtuoser Flow der Interpreten-Persönlichkeit bringt die Zuhörenden zu Gefühlsextasen. Kreisler sagt: «Wenn man Virtuosität im Blut hat, entschädigt das Vergnügen, aufs Podium zu steigen, alle Plagen. Man sollte umsonst spielen. Was sage ich? Man sollte zahlen zum Spielen!»

Die Überlegungen zum Wort dolce, der in Paganinis Werken und im 1. Satz von Beethovens Violinkonzert am häufigsten vorkommende Anweisung, zeigen auf, dass grosses seelisches Engagement vom Interpretierenden verlangt wird (Paganini: «Bisogna forte sentire per far sentire»). Ernst setzt dolce am Kulminationspunkt seiner Werke, der mit dem Goldenen Schnitt der Taktzahlen übereinstimmt. Heine schreibt, dass die Fingergeschicklichkeit nur vereint mit dem der angesetzten Geige so nahen Herzschlag eine glaubwürdige Aufführung ergebe. Borer kommt zum Schluss, dass mit dolce nicht piano gemeint ist, sondern jenseits musikalischer Dynamik eine poetisch-ethische – besonders intensive – Dimension, die grössere Tiefe fördert. Beispiele: Tartini («suonare parlante»), Corelli («Prinz der Süsse»), Dante (Purgatorio XXIV, 52–57: «dolce stile novo»). Die Kirchenväter Augustinus und Caesarius von Arles meinten, mit einer auf einem Holz aufgespannten Saite – wie der ans Kreuz gebundener Körper Christi – sei man fähig, die «Süsse der Wahrheit auszudrücken». Die alten Griechen (Orpheus, Pythagoras) assoziierten Saitenspiel mit Süsse, Liebe und Kraft; Amphion erbaute die Mauern von Theben mit Saitenspiel. Und der Inder Bharata betrachtete die Süsse (madhura) als eine der neun wichtigen Qualitäten von Musik.

Es gibt etwas Besseres als perfekte Violinvirtuosität; ein anonymer 30-jähriger Geiger bringt dies auf den Punkt, indem er sagt: «Es ist viel schwieriger, technisch perfekt und gleichzeitig emotional beteiligt zu sein, denn du gehst Risiken ein.» Gidon Kremer verlangt, dass in einer Aufführung etwas sei, das sie «persönlich, menschlich und tief» mache. Die lateinische Bedeutung des Wortes imperfectus meint «unvollendet, unfertig» – das heisst «noch suchend, lebendig»! Seit Beginn des 20. Jahrhunderts verführt die «performance police» der Studioaufnahmen zu Glätte und verhindert «das Ausstrecken nach dem Unerreichbaren. Perfektion tötet die Kunst» (Kremer). Viele Interpreten haben sich dagegen gewehrt mit langen ungeschnittenen Aufnahmefolgen oder Liveaufnahmen. Artur Schnabel meinte, dass Aufnahmen «gegen die wirkliche Natur von Aufführung» sei. Rudolf Serkin betrachtete Aufnahmen als «Tortur». Populärmusikern gelingt der Kampf gegen das Mikrofon mit Improvisation – die ist einmalig, unschneidbar; ganz im Sinn von Mozart und Beethoven, die noch bei Aufführungen ihre Soloparts nicht aufgeschrieben hatten. Am Beispiel der unkonventionellen Konzertpraxis von Patricia Kopatchinskaja wird aufgezeigt, wie man das «Narrenhaus» der Virtuosität verlassen kann.

In einem Kapitel taucht man ein in die Strapazen und Erfolge der fünfmonatigen Gastspielreise H. W. Ernsts in die Niederlande. Hier ein Zitat aus den vielen Pressestimmen: «Man sieht [beim Blick auf die Zuhörer] betrübte, schwermütige oder liebevolle Gesichtsausdrücke, je nach den Tönen, die der Künstler erzeugt. … Wenn der Künstler es so weit zu bringen weiss, dass unsere Seele mit der seinigen vereint wird, dann hat er eine hohe Stufe der Perfektion erreicht.»

In weiteren Kapiteln wird atemraubend die 80 Jahre dauernde Virtuosenkarriere von Camille Saint-Saëns resümiert. Die faszinierenden, amüsierenden und provozierenden Berichte Heinrich Heines über das Pariser Musikleben werden geschildert. Man erfährt von den Erkenntnissen Louis Spohrs mit seinen Kollegen Ernst und Sivori in London im Jahr 1843 über dünne Saiten=leichtes Flageolettspiel versus dicke Saiten=voller Ton. Das Leben der Schwestern Teresa und Maria Milanollo gibt Anlass, über eine weibliche Form der Violinvirtuosität nachzudenken. Mittels dichterischer Werke Dostojewskis und Gautiers wird die unterschiedliche Wirkung Ernsts in Westeuropa und Russland verglichen.

Auf der CD kann man verschiedene Interpretationen – auf hohem Niveau gespielt – von Werken H. W. Ernsts vergleichen. Basierend auf Originalfingersätzen wird die Art der im 19. Jahrhundert üblichen Glissandi demonstriert.

Dem anregenden Buch fehlt ein Register für gezielte Suche.

Image

Christine Hoppe, Melanie von Goldbeck, Maiko Kawabata Hrsg.: Exploring Virtuosities. Heinrich Wilhelm Ernst, Nineteenth-Century Musical Practices and Beyond, 413 S., CD mit Musikbeispielen von H. W. Ernst, eingespielt von Autoren des Buches, € 74.00, Olms, Hildesheim u.a. 2018, ISBN 978-3-487-15662-0

Bild oben:
Eine Matinee bei Liszt
, Stich von Joseph Kriehuber (1848)
v. li.: Joseph Kriehuber, Hector Berlioz, Carl Czerny, Franz Liszt, Heinrich Wilhelm Ernst.
Bibliothèque nationale de France/wikimedia commons

 

Das könnte Sie auch interessieren