Der Stimmung unterworfen
Auch heute hat «Stimmung» den Doppelsinn Intonation und Laune. Dass diese beiden Bedeutungen auch in der Musik viel näher waren, als wir heute denken, erfährt man in diesem Sammelband. Und vieles mehr.
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Es ist natürlich alles wieder mal viel komplexer, als es gemeinhin dargestellt wird. Nix davon, dass mit dem wohltemperierten System die alten Probleme der Stimmungen gelöst waren – oder auch nur teilweise. Die Diskussion ging erst mal weiter. Zu gleicher Zeit etwa, als Bach seinen berühmten Zyklus zusammenfügte, machte Telemann in Paris die Hörerfahrung, dass es doch etwas komplizierter ist mit den Intonationen und dass eine differenzierte enharmonische Singweise den Ohren zwar wehtut, aber doch «vortrefflich süss» klingt. «Eine schöne Contradiction. Man muss die verwehnten zahmen Ohren etwas weiter auftuhn.» [sic] Das ist wieder einmal ein wunderbares Exempel dafür, wie weltoffen und neugierig dieser immer noch etwas verkannte Mann war – und auch dafür, was das sich aufklärende 18. Jahrhundert so alles dachte, wenn es von Stimmungen und derlei sprach: nicht nur akkurate und möglichst reibungsfreie Intonation, sondern auch Emotion, Anstand, Sprache, Physiologie und Philosophie.
Ein ganzes Feld tut sich dahinter auf. Aufgeschlüsselt erscheint es nun in diesem Sammelband, der den Stimmungen und der Vielstimmigkeit in der Aufklärung nachgeht (und manchmal noch etwas darüber hinaus bis in die Gegenwart, zu Hermann Burger etwa). Über diesen «musikalischen Paradigmen in Literatur und Kultur» arbeiten derzeit die drei Herausgeber unter Boris Previšićs Professur an der Universität Luzern, dies in einem Nationalfonds-Forschungsprojekt. Die neunzehn Aufsätze, die im September 2016 anlässlich einer interdisziplinären Tagung zu diesem Thema entstanden, sind höchst informativ, wenn auch nicht immer gleichermassen leicht zu lesen (besonders die Herausgeber epistemologisieren gern ein bisschen gar). Sie richten sich an ein Fachpublikum; der interessierte Laie wird sich den einen oder anderen Text herauspicken, aber es lohnt sich durchaus, durch dieses Thema zu schweifen und die unterschiedlichen Facetten kennenzulernen: Wie sich die Ansichten etwa bei Rameau oder Herder wandelten, wie das Verhältnis von Theorie, Praxis – und heutiger Praxis (!) war oder dass sich Wilhelm Heinse etwa in seinem Roman Hildegard von Hohenthal damit auseinandersetzte. Stimmung als Intonation bzw. als Laune: Das war einander näher, als wir es heute verstehen. Und so heisst es bei Heinse: «Die Natur hat sich bereitet, um immer in neuen Gefühlen ewig seelig fortzuschweben; und unser Urberuf ist, dies zu erkennen, und glücklich zu seyn. Pythagoras hatte ganz Recht, die Welt ist eine Musik.»
Stimmungen und Vielstimmigkeit der Aufklärung, hg. von Silvan Mossmüller, Laure Spaltenstein und Boris Previšić, 389 S., € 39.00, Wallstein, Göttingen 2017, ISBN978-3-8353-3075-7