Der Kunst ausgesetzt
Der 5. Internationale Kirchenmusikkongress fand vom 21.–25. Oktober 2015 in Bern statt. Die Beiträge sind nun im einem Sammelband dokumentiert.
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«Sie haben nicht das Recht, uns ungeschützt der Kunst auszusetzen», beklagte sich einst eine Zuhörerin eines Konzerts mit moderner Orgelmusik, ohne zu ahnen, damit einem internationalen Kongress gleich den Titel geliefert zu haben, der solcher zeitgenössischen Kirchenmusik gewidmet war. Die Schweizer Musikzeitung hat in der Nummer 12/2015, S. 31, über ihn berichtet. Von Thomas Hürlimanns Festvortrag bis hin zu einem Gespräch über Lukas Langlotz‘ Uraufführung einer Kantate im Abschlussgottesdienst dokumentiert der hier angezeigte Band nun alle Beiträge des Kongresses – Referate, Workshops, Forschungskolloquien, Gottesdienste –, die Theologen, Historiker, Liturgiker und Kirchenmusiker zum Nachdenken und vielleicht auch Experimentieren anregen. Was ein Buch naturgemäss nicht wiedergeben kann, sind die eigens für diesen Kongress in Auftrag gegebenen Kompositionen.
Kirchenmusik ist ein weites Feld, weiter vermutlich als gottesdienstliche, aber vielleicht auch nicht ganz identisch mit geistlicher Musik. Kurt Martis Frage, «Ist Klang der Sinn?», diente darum als zweites Thema des Kongresses. So selbstverständlich man sie bejahen mag, so wenig selbstverständlich stellt sich das Verhältnis von Klang- und Wortrede, von Musik und Verkündigung speziell im Gottesdienst dar. Ihm widmen sich denn auch eine Reihe von Beiträgen. Gerade das Ungewohnte, oft Widerständige avancierter Kirchenmusik könnte, so eine Deutung, jenes Element sein, das die Aktualisierung des Evangeliums, ja vielleicht eines Transzendenzbezuges überhaupt sichtbar machen würde. Sie würde sich so jener Wohlfühlästhetik vieler heutiger Gottesdienste entgegenstellen, die Kirchenmusiker ihrerseits schwer goutierbarer Populär- und Trivialkultur aussetzt. Denn die Kirche hat die theologische und ästhetische Deutungshoheit und Normierungskraft verloren, und ihre Glieder, der Tradition der Psalmen und Kirchenlieder unkundig geworden, alimentieren sich mit den verschiedensten Musikstilen rund um den Globus. So steht die heutige Kirchenmusik in der Spannung zwischen zwei Polen: dem einer avancierten geistlichen Musik, die wie die zeitgenössisch weltliche einen eher begrenzten Hörerkreis anspricht, und dem einer oft verschlagerten religiösen Populärmusik, die ästhetisch wie liturgisch kaum satisfaktionsfähig ist. Wie die Kirchen diese Spannung bewältigen und ob Kirchenmusik nicht einfach in verschiedene Milieus zerfällt, dies bleiben offene Fragen. Zum Glück gibt es – dank engagierter Organisten und Organistinnen, Chorleiter und Chorleiterinnen – in vielen Kirchen Konzerte, die unbekannte geistliche Werke zu Gehör bringen, die über die Spätromantik hinaus weit ins 20. Jahrhundert hineinreichen.
Bleibt anzufügen, dass sich ein visuell interessierter Leser gerne einer etwas ansprechenderen Buchgestaltung ausgesetzt hätte.
Der Kunst ausgesetzt. Beiträge des 5. Internationalen Kongresses für Kirchenmusik, 21.–25. Oktober 2015 in Bern, hg. von Thomas Gartmann und Andreas Marti, 339 S., Fr. 40.00, Peter Lang, Bern u.a. 2017, ISBN 978-3-034325-63-9