Suche nach einer musikalischen Identität des Tessins
Carlo Piccardi widmet sich in seiner Untersuchung dem Festspiel in der Südschweiz, das um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte.
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In der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart wird im vierten, 1954 erschienenen Band der ersten Ausgabe der unter dem Stichwort «Feste und Festspiele» die wichtige Stellung erwähnt, welche im Schweizer Musikleben die Gattung des Festspiels einnahm: «Heute [ist] kaum ein grosses Fest (insbesondere Sängerfeste, Zentenarfeste u. ä.) ohne Festspiel denkbar.» Damals konnte diese Gattung auf eine etwa hundert Jahre alte Tradition zurückblicken. Ursprung dieser Erfolgsgeschichte war die erste Fête des vignerons, welche François Grast 1851 komponiert hatte. Einmal ländlich-volkstümliche Themen wie im Waadtland, einmal historisch-patriotische Ereignisse bearbeitend, von Laiendarstellern und -darstellerinnen gespielt und meistens von Laienorchestern begleitet, verbreiteten sich diese reichlich musikalisch untermalten Bühnenwerke schnell in der französischen und in der deutschsprachigen Schweiz. Allen Festspielen gemeinsam war ihre ideologische Konnotation: Diese Werke wollten die (musikalische) Identität des Schweizer Volks stärken. Im Kanton Tessin konnte die Gattung erst in den 1920er-Jahren Fuss fassen. Die Tessiner hatten ähnliche (musikalische) Identitätsprobleme zu bewältigen wie die Eidgenossenschaft als Ganzes. Sie standen jedoch vor einem zusätzlichen Dilemma: Einerseits galt es, auch in der Südschweiz eine als typisch schweizerisch angesehene Tradition zu pflegen, andererseits wollten die Tessiner Autoren bei ihrer Selbstdarstellung touristische Gemeinplätze vermeiden.
Nach einigen vereinzelten Versuchen (zuerst 1924 für die Festa delle camelie in Locarno) entstand anlässlich der jährlichen Mustermesse in Lugano zwischen 1933 und 1944 eine kontinuierliche Tradition von Festspielen, welche dann sporadisch bis 1953 weiterverfolgt wurde. Sie steht im Zentrum des jüngsten Buches von Carlo Piccardi, dem Doyen der Tessiner Musikwissenschaft. Jedem Festspiel der Blütezeit wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Die erwähnten ideologischen Spannungen bekamen zur Zeit des italienischen Faschismus und während des zweiten Weltkriegs selbstverständlich eine neue Dimension und Dringlichkeit. Die besten Tessiner Künstler der Zeit leisteten ihren Beitrag zu den Luganeser Festspielen, wie zum Beispiel die Literaten Guido Calgari und Vinicio Salati, die Komponisten Otmar Nussio und Enrico Dassetto und die Choreografin Ada Franellich. Ein überaus reicher Dokumentationsteil macht gut die Hälfte des Buches aus und zeigt zahlreiche Partiturausschnitte, Libretti und Bildmaterial.
Mit viel Liebe zum Detail hat Piccardi diese Werke und ihren Kontext rekonstruiert und ein lebendiges Bild von der Tessiner Spätblüte einer verschollenen Musikgattung wiedergegeben. Ihre Stoffe kommen uns heute fremd oder zumindest veraltet vor, ihre ideologischen Hintergründe hatten aber damals durchaus eine Berechtigung. Würdig unserer Anerkennung ist sie schon allein deshalb, weil zahlreiche Künstler mit grosser Hingabe daran gearbeitet haben.
Carlo Piccardi, La rappresentazione della piccola patria: gli spettacoli musicali della Fiera Svizzera di Lugano, 1933–1953, 6 + 631 S., € 24.00, Libreria musicale italiana, Lucca 2013, ISBN 9788870967388