Das «Unabgegoltene im Vergangenen»
Ein Zürcher Symposiumsband gewährt umfassenden Einblick in Klaus Hubers Werk.
Komponisten, die mit historischer und aussereuropäischer Musik operieren, gibt es heute wie Sand am Meer. Wirklich spannende Ergebnisse kommen nicht immer dabei heraus. Klaus Huber jedoch war einer der ersten, der fern weltmusikalischer Moden und postmoderner Oberflächlichkeiten Anregungen aus anderen Kulturkreisen auf substanzielle Weise produktiv machte. Auch deshalb heisst diese instruktive Einführung in seine Arbeit Transformationen, «ein konzeptuelles Leitmotiv von Hubers kompositorischen Strategien», wie die Herausgeber Jörn Peter Hiekel und Patrick Müller erläutern.
Dieser Band, der zurückgeht auf ein Symposium der Zürcher Hochschule der Künste im März 2010, war überfällig! Denn im Falle des frisch gebackenen Trägers des Musikautorenpreises herrscht doch ein seltsames Missverhältnis zwischen der fraglosen Relevanz seines Œuvres und dessen wissenschaftlicher Rezeption; ganz zu schweigen von der Bedeutung Klaus Hubers als Lehrer, der zahlreiche Protagonisten der neuen Musik entscheidend prägte (einer der wenigen Aspekte im Übrigen, den diese Publikation nicht berücksichtigt).
Jörn Peter Hiekel setzt einleitend die ästhetischen Wegmarken unter der «Idee des Transformativen», die auf Überwindung eines eindimensional eurozentrischen Denkens angelegt ist. Im Folgenden werden die bei Huber eng miteinander verflochtenen Spannungsfelder des Politischen, Spirituellen, Transkulturellen und Geschichtsbezogenen umfassend beleuchtet.
Zwei langjährige Begleiter des huberschen Schaffens sorgen zu Beginn für gespannte Aufmerksamkeit: Während Max Nyffeler in der kenntnisreichen Erörterung nationaler Befindlichkeiten das schweizerische Profil Hubers schärft, hält Claus-Steffen Mahnkopf in seinem Beitrag «Die Wahrheit von Klaus Hubers Musik» ein leidenschaftliches Plädoyer für einen in Verruf geratenen Kunstbegriff. Für Mahnkopf ist Huber ein Musterbeispiel künstlerischer Integrität. Dass Hubers Musik Bekenntnismusik auf allerhöchstem Niveau ist, macht Thomas Gartmann in seinen Ausführungen zur «Geistlichen Musik» evident und markiert das Spirituelle als künstlerischen Widerstand mit utopisch-sozialen Potentialen. Dieser Aspekt wird auch von Susanne Kogler betont, die Hubers Klang-Sprache als ausgesprochen kommunikativen Ort der (Selbst-)Erfahrung betrachtet. Dass die Solostücke hier nicht aussen vor bleiben, ist Heidy Zimmermann zu verdanken, die im Modus instrumentaler Monodie (Ein Hauch von Unzeit, Transpositio ad infinitum, …Plainte …) die humane Dimension der Einzelstimme aufdeckt.
Eine Idee, die sich wie ein roter Faden durch diese Veröffentlichung zieht, ist das von Huber bei Ernst Bloch gefundene «Unabgegoltene im Vergangenen». Will heissen: ein kreatives Weiterdenken von ästhetischen Phänomenen, die zu ihrer Zeit ihr ganzes Potential noch nicht entfalten konnten. Hierauf hebt Martin Zencks ertragreiche Untersuchung Zur transepochalen Affinität des späten 20. Jahrhunderts zum Manierismus des frühen 17. Jahrhunderts ab, das geistige Herzstück dieses Buches. Dabei streicht er nicht nur die Bedeutung der Musik Gesualdos für Hubers Werk anhand ausgewählter Skizzenanalysen der Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria lesualdi heraus, sondern damit exemplarisch eine wesentliche Funktion alter Musik in der neuen Musik der letzten Jahrzehnte. Wie sich das «Unabgegoltene» und dessen Strategien auch auf Hubers eigene Stücke bezieht, veranschaulicht Sibylle Kayser anhand ausgewählter «Re-Kompositionen».
Einen streng analytischen Ansatz verfolgt Christian Utz, der in seiner Untersuchung Morphologie und Bedeutung der Klänge in Klaus Hubers «Miserere hominibus» tief in die Klangmaterie abtaucht – Physis statt Semantik, Objektivismus versus autorzentrierte Deutung. Auf der Suche nach einer «inhärent-musikalischen Narrativität» exemplifiziert Utz raumgreifend eine Deckungsgleichheit von struktureller Klangorganisation und «morphologischer Präsenz». Das sollte doch aber bei jedem halbwegs vernünftigen Werk zu finden sein. Die «gestischen Topoi», die er in Miserere entdeckt, wären auch in zahlreichen Stücken anderer Komponisten dingfest zu machen.
Ganz zentral im Schaffen von Klaus Huber ist, insbesondere ab 1990, die Arbeit mit Stimmungen und Tonsystemen jenseits der europäischen Zwölfteilung der Oktave. Diesem wesentlichen Aspekt widmet sich Till Knipper in differenzierter Veranschaulichung der vielfältigen Ausprägungen und Kombinationen von «Mikrotonalität» (ein Begriff, den Huber nicht mehr gelten lässt) zwischen Naturintervallen, Vierteltönigkeit, Drittel- und Sechsteltönen und der Verwendung arabischer Maquams und nimmt dabei nicht zuletzt ihre semantische Funktion im Werkkontext in den Blick. Alles andere wäre bei Huber wohl Erbsenzählerei …
Transformationen, Zum Werk von Klaus Huber, hg. von Jörn Peter Hiekel und Patrick Müller, Edition Neue Zeitschrift für Musik, 232 S., € 22.95, Schott, Mainz 2013, ISBN: 978-3-7957-0823-8