Schwer fassbare Innengründe

Ein Buch aus der Reihe «Sound Studies» fragt, wie wir im Alltag in Klänge eingebunden sind und welchen Einfluss sie auf unsere Entscheidungen haben.

Ausschnitt aus dem Buchcover

Die Biografie eines Komponisten, ein Buch über die Musikgeschichte der Romantik oder eines über neue Spieltechniken der Oboe wecken konkrete Erwartungshaltungen. Dann gibt es aber auch Bücher, und hierzu zählt der von Holger Schulze herausgegebene Sammelband Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen, die ihren Inhalt nicht unmittelbar preisgeben, die sich etablierten Methoden und traditionell hermeneutischen Verfahren entziehen. Vorerst lautet also die Frage: Worüber schreiben die 15 Autoren des Sammelbandes eigentlich?

Grundsätzlich geht es um nichts weniger als um andere Wege und Formen der Erkenntnis, um die Rolle von Stimmungen oder von Empfindungen sowohl fürs alltägliche Dasein als auch fürs rationale Denken. Letzteres wird unisono relativiert. Hajo Eickhoff schreibt aber auch: «Entscheidungen nach Gespür haben gegenüber der Vernunft den Vorteil, dass sie schneller, sicherer und präziser getroffen werden.» (S. 33) Solche Worte klingen einleuchtend. Wem sich das nicht erschliesst, der findet auf mehr als 260 Seiten immer wieder Belege. Das Kleinkind mit einem angeborenen Herzfehler begibt sich, sobald das kleine Herzchen aus dem Takt gerät, instinktiv in die Hocke, um dessen Belastung zu reduzieren (Eickhoff, S. 29 f.). Susanne Nemmertz wiederum beschreibt sehr subjektiv, durchaus aber anschaulich die Auswahl eines geeigneten Biwakplatzes in den Bergen. Stimmungen und klangliche Atmosphären überwiegen gegenüber rationalen Erwägungen. Die erfahrene Bergsteigerin und Dozentin am Institut für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich lässt sich schliesslich an dem Ort nieder, der ihr der eigene ganzheitlich empfindende Körper nahelegt (S. 107).

Dem Klang komme in der Herstellung von Raum eine besondere Bedeutung zu, schreibt Nemmertz etwas lapidar am Ende ihres Aufsatzes. Daher überrascht es, wenn in einem Buch mit dem Untertitel «Klanganthropologische Studien» so wenig von der Wirkung des Akustischen auf den «Innengrund» (Ulrich Pothast, S. 81 f.) die Rede ist. Eine Erklärung mag sein, dass Begriffe wie Instinkt, Stimmung oder Gespür schwerlich zu differenzieren sind; verständlicherweise scheuen ganzheitlich denkende Wissenschaftler die Separierung unterschiedlicher Empfindungsformen. Warum es an konkreteren Informationen über den Einfluss von Grossstadtgeräuschen, von Meeresrauschen oder Instrumentalklängen mangelt, liegt aber auch an ganz elementaren methodischen Problemen. Unsere Sprache, auch dies thematisiert das Buch, ist am «rationalen Prinzip» geschult; Gespür, Empfindung, Instinkt hingegen sind begrifflich schwer zu fassen. Der richtige Ausdruck für solch «weiche Faktoren» ist in der heutigen Wissenschaftskultur weder akzeptiert noch gefunden. Ein Anfang aber ist mit solchen Büchern aus dem Umfeld der Cultural Studies gemacht.

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Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen,
Klanganthropologische Studien, hg. von Holger Schulze, 268 S., kart., zahlr. Abb., mit CD-ROM, € 28.80, transcript-Verlag, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-1316-2

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