Notenschriften entziffern

Kursorischer Überblick oder vertiefte Anleitung zum Lesen und Interpretieren. Zwei unterschiedliche Bücher zum gleichen Thema.

Manuskript mit dem Omnium bonorum Plena, einer Motette von Loyset Compère, ca. 1470. Wikimedia commons

Nachdem ein halbes Jahrhundert lang nur Willi Apels Die Notation der polyphonen Musik (engl. 1942, dt. 1962) in das Lesen von originalen Noten einführte, sind nun gleich zwei neue Lehrbücher zur Notation Alter Musik erschienen. Doch obwohl beide mit «Notationskunde» betitelt sind, könnten sie unterschiedlicher nicht sein, ein Vergleich würde von Äpfeln und Birnen handeln. Dabei ähnelt das Buch von Schmid, emeritierter Musikwissenschafts-Professor aus Tübingen, weitgehend dem von Apel, während Paulsmeier, die das Fach während 30 Jahren an der Basler Hochschule für Alte Musik unterrichtete, etwas völlig Eigenständiges vorlegt.

Schmids Anspruch besteht darin, die Entwicklung der Notenschrift vom Mittelalter bis zum Jahr 1900 darzustellen, mit Ausblicken auf antike Vorläufer, auf Neumenschriften, Tabulaturen usw. Ein zentrales Anlegen ist ihm dabei, «ein Verständnis für die Funktionen von Schrift und ihre aktive Rolle im Prozess der Kompositionsgeschichte zu wecken». Die sehr übersichtlich gehaltenen Kapitel sind regelmässig von Aufgaben begleitet, in denen etwa in Faksimile gezeigte Originalnotation in moderne Notenschrift übertragen werden soll oder Wissensfragen zu beantworten sind. Das zeigt die Herkunft des Buches aus dem universitären Unterricht, bei dem Studierenden der Musikwissenschaft in einem (!) Semester diesen Stoff zu bewältigen hatten. Die gestellten Aufgaben sind als «digitaler Lehrgang» angekündigt, dabei handelt es sich schlicht um ausgelagerte Textaufgaben im pdf-Format, obwohl hier ganz anderes möglich gewesen wäre. Merkwürdig ist weiter, dass im Buch eine umständliche Umschrift mit pseudohistorischen Notenzeichen der sogenannten Münchner Schule verwendet wird, die sich durch Schmids Notationskunde hoffentlich nicht verbreiten wird.

Bei der Publikation von Paulsmeier handelt es sich um den ersten von insgesamt drei Bänden, der sich allein der Notation des 17. und 18. Jahrhunderts widmet – also eine Zeit, die bei Schmid auf wenigen Seiten abgehandelt wird, da hier wenig Systematisches zu berichten und die Musik scheinbar problemlos zu entziffern ist, sieht man von den in der Praxis bedeutsamen Proportionen ab. Die anderen beiden Bände werden dann das späte 12. bis 14. sowie das 15. und 16. Jahrhundert behandeln. Auch Paulsmeiers Ausgangspunkt ist das originale Notenbild, aber dort will sie ausdrücklich auch bleiben: Sie verzichtet auf Übertragungen in moderne Notation, leitet dagegen mit zahlreichen Faksimile in das Lesen und selbständige Nachvollziehen der aufgezeichneten Musik an. So fordert die Autorin auch zum Singen oder Spielen der Beispiele auf – es geht schliesslich um Musik (zugleich verweist dies auf die Herkunft aus dem Unterricht an der Schola Cantorum Basiliensis). Die Fülle der Beispiele dient denn auch nicht der Exemplifikation eines Systems, sondern zeigt eher die vielfältigen pragmatischen Abweichungen von einem im Hintergrund geltenden Notationssystem, wie sie von Komponisten und Musikern seit jeher praktiziert wurden.

Wie gesagt, Äpfel oder Birnen: Wer mit überschaubarem Aufwand einen Einblick in die Entwicklung unserer Notenschrift erhalten will, der möge zum Buch von Schmid greifen. Wer aber eine genauere Kenntnis der in originaler Notation aufgezeichneten Musik gewinnen will, dem sei der Kursus von Paulsmeier empfohlen.

Manfred Hermann Schmid, Notationskunde. Schrift und Komposition 900-1900, Kassel etc.: Bärenreiter 2012 (Bärenreiter Studienbücher Musik 18)

Karin Paulsmeier, Notationskunde 17. und 18. Jahrhundert, Basel: Schwabe 2012 (Schola Cantorum Basiliensis Scripta 2)

 

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