Drei Jahrhunderte Violintechnik
Eine kommentierte, mit klingenden Beispielen und Faksimiles vervollständigte Quellensammlung.
Zwei schwere querformatige broschierte Bände (je 700 Seiten) geben uns sowohl ausführliche Überblicke als auch detailreiche Einblicke in die Schriften und Noten, wie in den drei Jahrhunderten zwischen 1550 und 1850 Violinen und verwandte Instrumente gebaut, gestimmt, intoniert und gehalten wurden, wie die Bögen geformt waren und geführt wurden, welche Verzierungen, Effekte, Arpeggien, Skordaturen, Interpretationen, Kadenzen üblich waren und welche pädagogischen Hilfsmittel zur Verfügung standen. – Eine kostbare Zusammenstellung, die ich wärmstens empfehlen kann.
Es ist ein Genuss, die einleitenden Abschnitte der Kapitel zu lesen. Die vielen nach Entstehungsjahren geordneten Quellenzitate anschliessend an die Kapitel sind bereichert mit vielen noch nie gesehenen Abbildungen und Notenfaksimiles und stehen auf Deutsch und in Originalsprache zur Verfügung. Ich vernehme vieles, von dem ich in meinem langen Leben noch nie gelesen habe, oft sehr unterhaltend und zum Schmunzeln aber gewiss geeignet zum ernsthaften Studium. Hier einige Beispiele meiner Faszination:
- I 31 (Band 1 Seite 31): Geraffte Auslegung des Begriffes Tempo rubato.
- I 90: Kaufpreis einer Stainer-Geige in Form einer hohen Lebensrente an den Verkäufer, einen alten Geiger!
- I 191: Spohr verlangt temperierte Intonation.
- I 332: Tartini beschreibt in seinem Lehrbrief an Maddalena Sirmen-Lombardini von 1760, wie ein sorgfältiger Bogenansatz zu schönem Klang führt.
- II 12: Nie wäre mir bewusst geworden, dass im 3. Satz der a moll-Solosonate von Bach die Begleitung als «Bogenvibrato» benannt sein könnte.
- II 14: Dank sorgfältiger Erforschung von Wortbedeutungen mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuches kann die Autorin Kochs Beschreibung, Vibrato sei eine «verjährte Spielmanier» als durch jahrelangen Gebrauch zur Gewohnheit gewordene Spielmanier deuten.
- II 55-63: Hilfreiche ausführliche Aufstellung aller Verzierungsnamen und deren Bedeutung.
- II 146 zu Jean-Joseph Cassanéa de Mondonvilles Sonaten Les sons harmoniques (Paris 1738): Empfehlung zur Aufführung dieser ersten Sonaten, in denen Flageoletts in die Komposition integriert wurden.
- II 332 und 486: Spannende Anekdoten aus dem Leben von Karl Ditters von Dittersdorf.
- II 332: Lolli empfiehlt, keine Finger liegen zu lassen, weil sie dämpfend wirken.
- Kapitel XII: Interpretation mit sehr reichen Quellen auf 135 Seiten.
Ein 62-seitiges Quellenverzeichnis beweist die fleissige Belesenheit der in Bern geborenen, in Wien und Innsbruck lebenden, auch in Europa und den USA lehrenden barockgeigenden Autorin Marianne Rônez. Die reichen Anhänge enthalten kostbare Notenfaksimile, z.B. Tartinis vollständige Regole «schelettri» (Schemata zur Bildung von Kadenzen), Baillots Orgelpunkte aus L’Art du Violon (ein technisch anregender Gang durch den Quintenzirkel), Spohrs 7. Konzert von Rode als Duett mit vielen Spielanweisungen oder aus Michel Correttes L’Ecole d’Orphée je ein Duett in französischem und italienischem Stil (letzteres hörbar auf der CD).
Kombinations- und Differenztöne
Vergeblich habe ich gesucht nach Hinweisen, dass bestimmte Töne auf dem Streichinstrument mit Hilfe der Resonanz der leeren Saiten und derer Obertöne auf genaue Intonation geprüft werden können, wie ich das in meinem Unterricht nutzbringend angewandt habe (nach Christine Heman, Intonation auf Streichinstrumenten, Bärenreiter 1964). Einzig im Kapitel Besondere Effekte II 144 und 157 berichtet Rônez von Francesco Galeazzi, der mit leeren oder gegriffenen Oktaven den gespielten Ton dank der entstehenden Resonanz verstärkte und von J. P. Billiard, der einen gestrichenen Ton intensiviert mit stumm Greifen von dessen Oktav oder Prim und darauf noch eine Terz anschlägt, um den gestrichenen Ton in Vibration zu bringen.
Noch mehr erstaunt mich, dass, ausser II 158 wo Baillots Orgelnachahmung mit dem dritten Ton beschrieben wird, nichts über die Kombinations- oder Differenztöne steht. Diese entstehen gut hörbar beim Spielen von Doppelgriffen, haben die Frequenz der Differenz der Schwingungszahlen der gespielten Töne und sind sehr hilfreich für das Stimmen der Saiten und für die die Intonation – in meinem Studium und bei der Arbeit mit meinen Schülern ein ständiges Werkzeug. Giuseppe Tartini, der viele Schüler aus ganz Europa unterrichtete, war einer der ersten, der dieses Phänomen beschrieb. Die Doktorandin Angela Lohri hat mir den Trattato 1754 von Tartini vermittelt, aus dessen 1. Kapitel ich frei und stark verkürzt übersetze: «Wenn zwei Töne … einige Zeit ausgehalten werden, gibt es einen dritten Ton (terzo suono) … Wenn ich auf meiner Violine auf zwei Saiten spiele, kann ich die Form des Intervalles physikalisch begegnen, was den Vorteil der sicheren Intonation für mich und meine Schüler und des Beweises der präzisen diatonischen Tonleiter hat.» 1767, als sein Trattato schon europaweit bekannt geworden war und auch gelobt (Rousseau, Martini, d’Alembert, Serre), und kritisiert wurde (Rameau) verteidigte sich Tartini in seinem De’ Principij 1767: «Im Jahr 1714, als der Autor [Tartini] 22jährig war, hat er das Phänomen auf seiner Violine in Ancona, entdeckt, woran sich nicht wenige noch lebende Zeugen zu erinnern vermögen. Er machte sie in seiner Schule zu Padua, eröffnet 1728 zur fundamentalen Regel der perfekten Intonation für die Jungen…»
Klingende Beispiele
Die beigefügte CD illustriert mit vielen wunderschön von Rônez mit Kolleginnen eingespielten Stücken die Entwicklung der Interpretation von 1585 bis 1803. Leider stimmt das Verzeichnis II 684 nicht ganz mit dem Inhalt der CD überein, was ich hier nach Rücksprache mit der Autorin wie folgt berichtige: Montéclairs Duo in französischer Untergrifftechnik mit gelockerten Strichregeln fehlt, deshalb ist auf Track 8 das Stück 9 usw. Weil Track 26, Lolli, Adagio. Avec beaucoup de Grace, ein nicht verzeichnetes Stück ist, stimmen ab hier die Tracks wieder.