Jodel, Joik und Krimanchuli
Der Film «Beyond Tradition» von Lea Hagmann und Rahel von Gunten besticht mit überwältigenden Bildern und einigen Skurrilitäten. Konfliktträchtige Aspekte werden oft nur angetippt.
Auf der Webseite zur Liste der Lebendigen Traditionen der Schweiz liest man: Naturjodel und Jodellied gelten weit herum als diejenigen Gesangsformen, welche die Schweiz repräsentieren. Die Unesco-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes verpflichtet die beitretenden Länder, eine solche Liste zu erstellen. Jodeln, so erfährt man dort weiter, bezeichne «eine stimmliche Ausdrucksart, bei der Lautsilben im häufigen Wechsel zwischen Brust- und Kopfregister gesungen werden». Durch diesen Registerwechsel entstehen Kehlkopfschläge, die je nach Gesangstradition mehr oder weniger hörbar gemacht werden. Und es bilden sich Folgen von klanglich unterschiedlichen, alternierenden Tief- und Hochtönen. Die Gesangstechnik finde sich auf allen Kontinenten in mannigfachen, von Vokalbildungen, Sprachen und Dialekten geprägten Formen. Gejodelt werde unter anderem auch in Georgien als «Krimanchuli» oder in Nordeuropa. Dort würden die Samen «joiken».
Geografisch Verbindendes
In ihrem Dokumentarfilm porträtieren die Regisseurinnen Lea Hagmann und Rahel von Gunten sowie der Produzent Thomas Rickenmann neben den Appenzeller Rugguusseli diese samischen und georgischen Gesangstraditionen. Für die erzählerische Klammer sorgt dabei der junge Appenzeller Jodler Meinrad Koch, der die typische regionale Art des Naturjodels «mit der Muttermilch aufgesogen hat», wie er sagt. Für den Film reist er nach Georgien zur Tifliser Musikstudentin Ninuca Kakhiani und nach Norwegen zu Marja Mortensson, die mit Rentieren genauso gut umgehen kann wie mit ihrer Stimme. Mit dem Schlagzeuger Jakop Janssønn und dem Tubisten Daniel Herskedal verschmilzt sie moderne Klangwelten, Sampling und modalen Jazz auf faszinierende Art mit dem traditionellen Joik der Südsamen. Herskedal hat auch die atmosphärisch stimmige Titelmelodie zum Film komponiert.
Weltanschaulich Trennendes
Beyond Tradition prägen in erster Linie die stupenden, virtuos komponierten Bilder der norwegischen, appenzellischen und georgischen Landschaften. Viele davon, mit einer Drohne aufgenommen, ästhetisieren und verklären die Szenarien: Die Wanderungen der nördlichen Rentier-Rudel wirken aus der Distanz wie Vogelschwärme, die trostlosen georgischen Plattenbau-Siedlungen entwickeln eine eigene Poesie. Die Bildsprache ist so stark, dass sie das eigentliche Thema das Filmes in den Hintergrund zu drängen und auch thematische Leerstellen zu verschleiern droht: Da wäre zum einen die Frage, wie das rohe Urtümliche von Naturstimmen zur Kunstform werden kann, wo sich diese beiden Phänomene doch eigentlich ausschliessen. Zum andern nennt die Produktionsfirma Extramilefilms explizit «die kritische Auseinandersetzung mit Tradition sowie die Inklusion von Innovation und Jugendkultur» als Motiv der Dokumentation. Dass Tradition und Erneuerung oft als Konflikt wahrgenommen werden und dieser emotional ausgetragen wird, davon ist im Film kaum etwas zu spüren: Wie Traditionalisten den innovativen Umgang mit Althergebrachtem sehen, wird offengelassen.
Zu diesen Unentschiedenheiten gesellen sich weitere: Sowohl Marja Mortensson als auch Meinrad Koch haben eine eher spezielle bis gewöhnungsbedürftige Beziehung zu Lebensmitteln. Koch studiert als Lebensmitteltechnologe das Potenzial von Insekten als künftiger Proteinquelle, Marja Mortensson backt aus dem Blut geschlachteter Rentiere Pfannkuchen. Vor allem letzteres durchbricht die Feel-Good-Atmopshäre des Filmes und wirkt im erzählerischen Gesamtzusammenhang auch kaum organisch eingebettet.
Sperrige Themen
Andere, eher irritierende oder sperrige Themen, die den Frieden stören könnten, werden nur erwähnt und nicht wirklich ausgeführt: Hellhörig wird man etwa, wenn die charismatische Chorleiterin Tamar Buadze in Georgien eher nebenbei den Konflikt zwischen dem Erbe der Kunstsozialisierung in der Sowjetunion und modernem Kulturverständnis anspricht (was teilweise übrigens auch für die Kultur der Samen gilt). Auch die Repressionspolitik der Skandinavier, die mit staatlichen Verboten das Joiken in die Verborgenheit abdrängte, wird bloss angetippt.
Gerne mehr erfahren hätte man auch, wenn Meinrad Koch einräumt, dass der witzig-kreative und originelle Umgang des «Hitzigen Appenzellerchors» – die Filmausschnitte mit dem von Noldi Alder gegründeten Ensemble sind höchst erfrischend – mit dem Appenzeller Kulturerbe bei Traditionalisten nicht nur Begeisterung ausgelöst hat. So bleiben vom Filmerlebnis vor allem berührende, teils überwältigend schöne Bilder und die gelungene Synthese aus Landschaftspoesie und vokalen Texturen, die im Kino Zeit und Gegenwart vergessen lassen.