Heavy Metal – Resistenztraining für die grosse Deadline

Ausführliche Version des Interviews mit dem Kunstwissenschaftler, Autor, ZHdK-Professor und Heavy-Metal-Fan Jörg Scheller in der Ausgabe SMZ 6/2024 – mit Link zu einer Playlist am Schluss.

 

Jörg Scheller: «Metal war eine Offenbarung für mich.» 

 Was ist das für ein T-Shirt, das du anhast?
Jörg Scheller: Kvelertak, Black ’n’ Roll, norwegische Black-Metal-Band, die Black Metal mit Rockeinflüssen kombiniert und dadurch sowas eher Lebensbejahendes, Enthusiasmierendes hat. Entombed waren die Wegbereiter von Black ’n’ Roll.

Wunderbar, wenn wir schon bei den Definitionen sind. Was ist Power Metal?
Eher so Heldentenor, fette Akkorde, Pathos, Tolkien-Leser-Milieu. Eher so die Stubenhocker-/Insider-Ecke (schmunzelt).

Sind das nicht alle?
Bei mit Core und Punk verbundenen Metalvarianten geht’s eher ein bisschen auf die Strasse.

Was ist Grindcore?
Eher aktivistisch, stark mit Punk verbunden, sehr avant-gardistisch insofern, als es um die Auflösung der Form geht. Die Form im Metal ist eigentlich immer sehr stabil. Anders als in radikal experimentellen Genres wahrt Metal eigentlich immer eine gewisse Form von Stabilität. Eine sichere Maschine. Man hat Entgrenzung, Ekstase und Intensität, aber immer auf einer gesicherten industriellen Grundlage.

Sludge Metal?
Da steig ich dann auch langsam persönlich aus, bei diesen endlos zerdehnten Hyper-Blues-Varianten. Ist mir fast schon zu sehr Kunst. Da wird’s experimentell und Anti-Pop. Was ich am Metal immer mochte, war, dass er eigentlich doch Pop ist, auch wenn das die Metaller nicht zugeben, und gleichzeitig stellt er sich im Pop gegen den Pop. Das fand ich ein interessantes Spannungsverhältnis. Judas Priest. Die waren immer total affirmativ im Hinblick auf die Popindustrie, Marketing, Image, Branding, und gleichzeitig hatten sie immer auch etwas Transgressives.

Deinem Buch («Metalmorphosen – Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal», Franz-Steiner-Verlag, 2020) entnehme ich, dass du ein grosser Judas-Priest-Fan bist. Es wirkt im Nachhinein schon sehr erstaunlich, dass es so lang ging, bis man draufkam, dass der Sänger und Bandleader schwul ist.
Es ist eine wunderbare Geschichte mit Rob Halford, dem «Metal God». Den Titel hat er sich sogar schützen lassen! Der Ledergott schlechthin ist jahrzehntelang in so einem Leder-Fetisch-Schwulenkostüm vor den Fans herumgeturnt, alle hätte es sehen können. Es gab Gerüchte, aber Probleme gab es selten. In den 90er-Jahren, als er sich outete, war man easy. IM METAL GEHT ES EBEN IMMER NOCH UM MUSIK UND NICHT NUR UM IDENTITÄT.

Apokalypse – das ist ja irgendwie so ein «glass half full, glass half empty»-Phänomen. Das Ende der Welt. Auf der anderen Seite geht’s jetzt eigentlich erst richtig los, jetzt sind wir in Gottes Reich, das Abplagen ist weg. Wie siehst du das?
Ich bin eigentlich recht überzeugter Apokalyptiker, denn du merkst ja, wenn du keinen endzeitlichen Druck hast, bekommst du nichts gebacken. Das beginnt schon bei einer ganz banalen Deadline. Die Apokalypse ist eigentlich bloss so eine grosse Deadline. Ohne Deadlines funktioniert nichts. Eine Anekdote aus dem Kaff, aus dem ich komme, eine pietistische Kleinstadt im Bible Belt von Baden-Württemberg, wo der Pietcong lebt, die harten Pietisten: Diese Kleinstadt wurde 1819 gegründet als pietistische Idealstadt. Die hatten irgendwie ausgerechnet, dass die Apokalypse im Jahr 1836 beginnt. Die Stadt war chronisch verschuldet – jetzt darfst du dem Messias natürlich nicht verschuldet gegenübertreten. Das heisst, bis 1836 musste bei ihren Gemeindefinanzen alles stimmen. Die haben sich also aufgrund dieses esoterisch-metaphysischen Ereignisses im Weltlichen total angestrengt und es tatsächlich geschafft, die Finanzen rechtzeitig in Ordnung zu bringen. Zwar kam der Messias dann leider nicht, aber die Stadt funktionierte nun.

Toll, und die Stadt steht noch! Aber die müssen ja in ein übles emotionelles Loch gekippt sein, als die Welt dann doch nicht unterging.
Das weiss ich auch nicht, wie man mit sowas umgeht. Aber das ist ja das Schöne, du kannst immer sagen: Gottes Wege sind unergründlich – und fertig, aus. Verantwortung? Der Herr macht halt, was er will. Die Apokalypse verzögert sich.

Sich die Apokalypse als Deadline für ein bestimmtes Ziel zurechtlegen: Könnte man das auch als Versuch deuten, sich Halt zu verschaffen in einer Welt, in der man sich irgendwie verloren fühlt?
Ja. Ich glaube, das ist eine Form des Widerstandes gegen die Wirklichkeit. Die Apokalypse bedeutet ja eben nicht nur Weltuntergang, sondern es ist das Versprechen auf eine sehr viel bessere Zukunft. Gemäss Bibel senkt sich die Stadt Jerusalem herab, eine Stadt aus durchsichtigem Gold. Da wohnt sich’s nicht schlecht. Auch Gott zieht dann selber ein. Es wird eigentlich alles ziemlich gut – für die, die da wohnen dürfen. Und wenn du jetzt in einer Zeit lebst, in der es nicht so gut geht, dann brauchst du zumindest so einen utopischen Vor-Schein von etwas anderem, an das du dich klammern kannst. Das wirkt zwar total esoterisch und irrational, aber ohne das geht’s halt auch nicht. Ich glaube, das hat die Religion früher geliefert: ein Bild, an dem man sich aufrichten kann. Und daran ist erstmal nichts falsch, nur, war es halt ein Machtinstrument, um die Leute klein zu halten im irdischen Leben. Während die Typen in den Schlössern es sich haben gut gehen lassen.

Was uns direkt zur klassischen Situation jedes Teenagers führt. Als Teenager ist man immer verunsichert. Da kommt so ein Rock-Gott wie der Sänger von Judas Priest gerade gelegen.
Jaja. Und vor allem, Metal gibt dir allein schon ästhetisch eine Art Halt. Es ist ja eine transgressive Form von Popmusik, eine, die mit den vorherigen Konventionen bricht, aber gleichzeitig noch Stabilität verspricht. Und das ist schon anders als im Grindcore, wo dann alle Strukturen noch vollends zerstört werden, oder im Sludge oder im Drone, wo es eigentlich keine Form mehr gibt. Metal bietet schon noch Orientierung und Halt, und gleichzeitig ist es eine Rebellion. Das kann man zwar als faulen Kompromiss deuten, aber vielleicht lebe ich schon zu lang in der Schweiz – ich finde einen Kompromiss eigentlich nichts Falsches.

Kannst du dich erinnern an den Moment, wo du zum ersten Mal eine Metal-Platte gehört hast?
Die erste gekauft habe ich als Teenager in Gerlingen in einem Einkaufszentrum beim Wocheneinkauf der Familie. Da gab’s noch CDs zu kaufen. Wir sind daran vorbeigelaufen, all die bunten Covers – und mitten drin steckte ein schwarzes. Es war eine von diesen fünf Millionen Motörhead-Compilations, From the Vaults. Irgendwie, ich weiss nicht warum, wollte ich die unbedingt haben. Sie hat mich dann zu Hause total geflasht. Der Pfarrerssohn hatte einen Plattenspieler und Metal-Platten, Guns ‘N’ Roses, Appetite for Destruction und Helloween, Keeper of the Seven Keys Part 1 und Part 2, glaub ich, und ich war komplett weg-geflasht. Da hat man schon gemerkt, jetzt beginnt etwas Neues. Du wirst nie wieder loskommen von dem Gift, das dir da ins Ohr geträufelt wurde.

Ein Pfarrerssohn, das war natürlich auch ein Zeichen – Lemmy (Anm.: Motörhead-Leader) war das ja auch …
Jaja, ein Zeichen, ja, von ganz oben war das gewollt.

Mit 14 hattest du die passende Montur und hast deine erste Metal-Band gestartet. Wie war das mit den Pietisten rundherum, haben die dich geschnitten von da an?
Man hat sich gegenseitig geschnitten. Wir lebten in zwei Welten nebeneinander. Deshalb kam’s dann eigentlich nicht mehr zu so viel Begegnungen.

Gab es keine Techno-Fraktion?
Doch, die gab’s. In der Schule hatten wir die. Das waren die, die am Morgen immer mit übernächtigten Augen in der Bank hingen. Die waren wirklich hart partymässig unterwegs. Dann gab’s noch Punks, die mochte ich nicht damals, die waren so sendungsbewusst, wussten immer was falsch und richtig war, wussten immer, wo der Feind steht. Wussten, was zu tun ist. Es gab damals schon die Nahostthematik, genau wie heute, Solidarität mit den Palästinensern usw. Es hat sich nicht viel geändert. Die haben mich eher an die Religiösen erinnert, die Dogmatiker. Die Metaller dagegen, das waren eher so die etwas Introvertierteren. Gar nicht so sehr die Lauten, Nach-vorne-Drängenden, Superselbstbewussten, sondern man hat als Metaller wirklich auch Musik gehört, stundenlang, Texte auswendig gelernt, versucht, die Texte zu verstehen, wo die Lyrics nicht abgebildet waren, versucht zu kapieren, was es mit diesem und jenem Sub-Genre auf sich hatte – alles Tätigkeiten, die man allein macht, zu Hause für sich. Oder du hast dich im Proberaum mit den technischen Herausforderungen herumgeschlagen.

Es gab – und gibt – ja auch diese Bestrebungen, eine Fusion von Metal und Klassik herzustellen. Deep Purple zum Beispiel haben das versucht. Diverse wagnerianisch aufgezogene Werke, bei denen ich immer das Gefühl hatte, sie seien auch von einer Art Minderwertigkeitsgefühl motiviert. Man wollte von den «seriösen» Musikerinnen ernst genommen werden, zeigen, dass man genauso virtuos sein konnte wie Konzertgeiger. Hat dich sowas je gelockt?
Interessante Frage, denn es gab bei uns in der Band so nach einem, eineinhalb Jahren ein Zerwürfnis. Ich wollte primitiv bleiben, ich wollte einfach rumschreien, ich wollte kein Gesangstraining machen und ich wollte mich nicht verbessern. Die anderen sind mehr auf die Klassik-Rock-Virtuositätsschiene gegangen, haben exzessiv Unterricht genommen, haben sich krass weiterentwickelt, waren dann technisch sehr stark. Daran ist die Band dann eigentlich zerbrochen. Insofern kann ich die Frage mit Nein beantworten. Ich verspürte die Versuchung nicht so. Wir hatten dann nochmal eine ähnliche Geschichte mit einer Krautrockband, longjumpmin hiessen die, wir nannten es «gehobenen Mittelstandsexperimentalrock mit stark technoidem Einschlag» und hatten am Anfang eine superanarchische Phase. Nach ein paar Jahren gab es innerhalb der Band Ambitionen, technischer zu werden, virtuoser, kam dann auch nicht so gut, wurde ein bisschen langweiliger. Ich übe aber schon auch, spiele Bass, hauptsächlich. Und um Metal zu spielen, brauchst du schon eine bestimmte Kompetenz, um die Geschwindigkeit und die Härte zu erzeugen.

Du beschreibst im Buch Heavy Metal als Freiraum, in dem die Wonnen pubertärer Faszination nicht unterdrückt werden müssten. Metal gebe den nie ganz überwundenen Tagträumen jener Zeiten einen Resonanzraum. Erlebst du das jetzt noch so?
Jaja. Ich glaube, es ist sogar ziemlich wichtig, dass man bestimmte Erfahrungen oder Gefühle, die man in der Pubertät hatte, nicht irgendwann beerdigt. Denn das sind die Geister, die dich später jagen werden. Im Metal kann man die Träume, Energien und Utopien aus dieser Aufbruchszeit irgendwo noch am Leben erhalten. Und das ist es wohl, was Metal auch ein bisschen das Peinliche gibt. Wo Leute sagen: Um Gottes Willen, da steht ein 50-Jähriger im Lederkostüm auf der Bühne und singt über irgendwelche mythischen Drachen. Aber gerade dieses Peinliche hat, finde ich, auch was Unschuldiges. Etwas, was dich als 12-, 13-Jährigen einmal geflasht hat. Und das hat Lemmy auch mal gesagt: Er spiele, was er spielte, weil es ihn als Teenager so getroffen habe, so ein Gefühl ausgelöst habe, dass er es behalten möchte. Er möchte nicht wegkommen davon.

Die totale Freiheit vom Coolness-Zwang also. Andererseits hast du gerade in diesen verschiedenen Metal-Genres ein quasi-sektiererisches Festhalten an gewissen Regeln. Ein Paradox?
Das beisst sich. Aber ich vergleiche es immer mit der Schweiz. Es gibt einen Bund, der heisst Heavy Metal, aber in diesem Bund gibt’s Bundesstaaten die zum Teil unterschiedlicher nicht sein könnten. Das clasht natürlich. Und alle habe ihre eigenen Steuergesetze, die Krankenkasse kostet überall unterschiedlich viel, es clasht eigentlich die ganze Zeit, und gleichzeitig gehört man doch irgendwie zusammen. Das merkst du, wenn du ein Metal-Magazin liest – Rock Hard, Metal Hammer –, da wird alles zusammengeführt. Grindcore, Power Metal, Death Metal, Black Metal, alles nebeneinander. Allein schon durch die Medien ergibt sich so eine Zusammengehörigkeit. Insofern spiegelt es vielleicht einen liberal-pluralistisch-demokratischen Geist, wo man sich fetzt, weil es wirklich auch Differenzen gibt, aber es ist in letzter Konsequenz doch dann nicht ganz sektiererisch.

Man hat sich schon auch umgebracht, oder?
Haha, ja, aber doch dann eher selten. Das gehört zumindest nicht zur Tagesordnung.

Offenbar ging es damals in Norwegen (Anm.: die norwegische Death-Metal-Szene brannte Kirchen ab, worauf diese um die Uhr bewacht werden mussten; auch kam es unter den Musikern zu ideologisch motivierten Morden) um die Verteidigung eines bestimmten Freiheitsverständnisses. In den Augen dieser Szene stand organisierte Religion mit ihren Kirchen für das Gegenteil von Freiheit. Habe ich das richtig verstanden?
Und darüber wurden sie selbst religiös. Denn sie haben im Grunde nichts anderes gemacht als die frühen Christen, welche die Tempel der Heiden zerstörten. Ich glaube, dieser Furor der skandinavischen Extreme-Metaller ist eigentlich Metal-untypisch. Denn die wurden richtig aktivistisch. Die wollten die Kirche wirklich aus dem Land haben. Der klassische Heavy Metal operiert eher im symbolischen Raum. Metallica, Megadeth oder Judas Priest, Slayer, da gibt’s keine politische aktive Bewegung, die damit verbunden wäre. Das war bei den Black Metallern anders. Menschen, die davon überzeugt sind, das Gute, Wahre und Richtige gefunden zu haben, neigen ja oft zu Gewalt. Weil man es auch durchsetzen will, wenn man quasi den heiligen Gral in Händen hält.

Es gibt die These, dass das Apokalyptische Halt gebe in einer Gesellschaft, der es fast zu gut gehe. Du schreibst auch, dass von Mexiko bis Moskau und Südamerika Heavy Metal, Folk-Metal, Mittelalter-Metal und all diese Arten, die das Apokalyptische an sich haben, auf dem Vormarsch sind. Verliert sich die Welt im Sumpf des Wohlstands?
Da müsste man prophetische Kompetenzen haben. Was diese neue, weite Verbreitung vielleicht anzeigt: Wir leben in einer Umbruchszeit, es ist grade alles offen, man weiss nicht so recht, in welche Richtung es kippt. Ob alles mal autoritärer wird, ob die Demokratie doch nochmal kommt, wie’s mit dem Klima weitergeht. Sehr viele Variablen sind im Spiel, es gibt sehr viele Risiken zurzeit. Metal ist eine Musik, die dem Ausdruck verleihen kann. Wo diese ganzen, auch düsteren Themen immer sehr offen verhandelt wurden. Vielleicht wächst Heavy Metal deswegen global, weil es einfach ein Medium für das Apokalyptische ist, das derzeit wieder relevant ist. Ich fand das sehr interessant während der Corona-Pandemie. Da hiess es oft: Wir hätten nie damit gerechnet. Ich sage: Ihr habt einfach zu wenig Metal gehört! Da ist ständig die Rede von Pandemien, Seuchen, Krisen, Tod, Verderbnis, Fäulnis. Wenn jemand vorbereitet war, dann die Metaller. Insofern ist vielleicht die Verbreitung von Metal ein ästhetisches Resistenztraining für diese Härten des Lebens, die jetzt bevorstehen, und eine Einstimmung auf die Apokalypse im Sinne eines Untergangs und Neubeginns.

Die ganze Ästhetik – auf der einen Seite das schwarze Album von Motörhead und Spinal Tap, let’s not forget, und auf der anderen Seite diese post-Rodin-post-mittelalterlichen episch-biblisch-schlangenbekämpfenden Schwertkämpfer –, man könnte sagen, das ist wie Fantasy-Literatur. Aber aus deiner gerade beschriebenen Sicht könnte man es auch als eine Gegenwartsanalyse auf symbolischer Ebene betrachten.
Im Grunde so, wie es auch bei der Bibel der Fall war. Das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, ist ja eigentlich reine Fantasy-Literatur. Mit Spektakel, Horror, mit allem, was man sich wünscht. Aber es sind natürlich auch Symbole und Metaphern für die damalige Gegenwart. Im Metal ganz ähnlich. Du beschreibst die Verhältnisse vielleicht nicht so direkt wie beim Hip-Hop, wo es eher darum geht: Hey, auf der Strasse passiert gerade das, in der Umgebung läuft’s gerade so. Metal verpackt die Gegenwart in apokalyptische Metaphern. Vielleicht wirkt es auch darum wie – wie soll man sagen? – wie Religion. Warum hat sich die Offenbarung des Johannes so global verbreitet? Das sind einfach Bilder, die gut funktionieren, in Afrika, Asien, Europa, überall. Bilder, die starke Affekte auslösen. Und da Metal auch mit solchen Bildern operiert, ist es auch so ein trans-nationales Genre geworden. Ich glaube, das sind Chiffren für die Gegenwart. Man sieht die Gegenwart durch die Chiffren des Mythologischen, des Fantastischen. Und damit ist Metal eigentlich auch schon ziemlich gut vorbereitet für Zeiten der Zensur. Bei Zensur kannst du dich nicht direkt ausdrücken, musst immer Umgehungsstrassen nehmen, die Bedeutung des Gesagten mittels bestimmter Codes und Symbole kaschieren. Metal macht sowas schon seit sehr langer Zeit.

Woher kommt das oft ans Selbstparodistische gehende Vokabular, die Namen, die Albumtitel? Grossartig, die kreative Energie, die in diese bizarren Wort- und Namensschöpfungen fliesst!
Das ist das Lustige am Metal. Auf der einen Seite ist es häufig sehr ernst gemeint, die grosse Geste, das Monumentale. Auf der anderen Seite spürt man oft auch eine Form von Selbstironie. Ein Name wie Megadeth, das kannst du ja gar nicht parodieren – auch noch ohne «a»! Oder Metal Church. Die Selbstironie zeigt, dass wir schon auch wissen, was wir tun, so überdreht und übersteigert, dass es ins Groteske geht. Man fährt die Ästhetik bis an ihre Grenzen, wo sie sich selbst unterwandert. Das gibt’s im Metal. Aber es gibt auch Dumm-Metal, wo Leute das mit heiligem Ernst betreiben. Metal ist eigentlich immer too much. Es gibt auch Gegenbewegungen. Metallica waren eine Gegenbewegung zum Hair Metal, sie trugen Jeans, T-Shirt, Sneakers, Lederjacke. Man wollte wegkommen von den barocken Gesten. Metal ist wohl einfach so pluralistisch, dass es wie in der Kirche all die verschiedenen Konfessionen gibt, die miteinander ringen und streiten. Mal geht’s ins Parodistische, Peinliche, mal ins Puristische, Protestantische.

Gibt’s Metal-Bands, die von John Cage beeinflusst sind?
Es gibt ein paar Cover-Versionen von 4’33’’ von Metal-Bands auf Youtube. Stehen sie halt dann einfach im Metal-Look da. Ansonsten fällt mir grad nichts ein. Vielleicht in der Mr.-Bungle-Ecke, die haben zumindest Kenntnisse von Fluxus und so.

In einem anderen Buch (Bill Peel, «Tonight it’s a World We Bury – Black Metal, Red Politics», Repeater Books, 2023) wird dargestellt, wie all diese Sub-Stile von Metal äusserst wichtig sind für die Sozialisierung von Teenagern. Und gleichzeitig, wie Bands, die für diese Sozialisierung so wichtig werden, dass sie über die Grenzen des Genres hinaus Erfolg geniessen, genau damit ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Einerseits erfordert es harte Arbeit, um von einer Genre-Gruppierung als dazugehörend akzeptiert zu werden. Andererseits braucht jede solche Gruppierung Jungblut, um nicht zu versteinern. Wieder so ein Paradox…
Jaja. Da sind wir wieder ein bisschen beim Anarchismus. Was mich immer interessiert hat, sind Bands, die versuchen, die eigenen ökonomischen Zügel in der Hand zu behalten, und «to practice what you preach». Nicht wie Rage Against the Machine, die irgendwie ein kommunistisches Programm in den Lyrics haben und dann doch bei einem Major unterschreiben. Da fand ich immer Leute wie Henry Rollins super, die mit der eigenen Plattenfirma, mit dem eigenen Verlag unterwegs sind. Das entspricht eher dem anarchistischen DIY-Ideal.

Im Punk war es ähnlich. Jemand, der Erfolg hatte, galt automatisch als suspekt. Ich nehme an, beispielsweise Metallica ist auch vor diesem Background gross geworden. Das muss ja ein komisches Gefühl sein, plötzlich als superreicher Gigant durch die Welt zu reisen!
Das ist wiederum eine sehr symbolische Situation für die heutige Gesellschaft. Es ist oft der Business-Punk, der es dann ganz nach oben schafft, weniger die braven, den Gruppengesetzen Angepassten, sondern eher die etwas Abseitigen, Originelleren, aber halt nicht ganz so Radikalen. Da passen Metallica super rein. Metal-radikalisiert, aber gleichzeitig smarte Geschäftsleute und insofern «the best of both worlds». Transgression – schneller, härter – und gleichzeitig sehr geschäftssinnig. Ein altes Spiel im Metal: Jemand schafft’s nach oben, sogleich werden Sell-out-Vorwürfe laut. Genauso wie im Hip-Hop.

Das ist dann auch eine Art Apokalypse.
Der Höllensturz der Verdammten! Ich kann verstehen, dass man Metallica kritisch sieht. Ein Riesenbusiness mit unglaublichem Management rundum, das auf jeden Trend springt und alle möglichen Produkte verkauft. Gleichzeitig bringt sowas Metal in den hintersten Winkel der Welt, bringt die Leute zumindest mal in Kontakt damit. Dann kommen sie vielleicht auch mit extremeren Sub-Genres in Kontakt und entwickeln sich weiter.

Die unglaubliche Vielfalt von Sub-Genres zeugt von einem ständig sich erneuernden Umfeld. Die Szene ist letztlich doch sehr offen.
Das wird im Metal oft übersehen. Man hat dieses Image, das stark aus den Medien kommt, einer geschlossenen Bruderschaft. Dass Metal konservativ sei, dass sich da nichts ändere. Das ist empirisch einfach falsch. Grad all diese Sub-Genres zeugen davon, dass man sich immer wieder abgrenzt, Neues schafft. Kaum hat sich Death Metal etabliert, kommt Melodic Death Metal und sagt: Wir wollen hier nochmal einen anderen Akzent setzen. Kaum ist der akzeptiert, etabliert sich wieder eine andere Variante, die das kritisiert.

Was ich auch spannend fand in deinem Buch, ist der Vergleich zwischen Blues und Metal. «Keine Genres für Gewinnertypen».
Musikhistorisch sagt man, Metal löst sich vom Blues. Das stimmt schon, musikalisch. Die Bluesform wird aufgegeben. Die Form wird offen, die Musik wird riff-basiert, diese klassischen Blues-Schemata sind mehr oder weniger Geschichte. Aber gleichzeitig, finde ich, tritt Metal sozusagen die Nachfolge des Blues in soziologischer Hinsicht an. Blues richtet sich ja an die, denen es vielleicht nicht so gut geht. Das ist im Heavy Metal auch so. Nicht der Happy-go-lucky-Poptyp, let’s celebrate and dance, sondern die Apokalypse ist immer im Bewusstsein. Wenn man im Metal feiert, dann im Bewusstsein, dass es zu Ende sein könnte, dass die nächste Seuche bald kommt, der nächste Krieg bevorsteht. Nicht: Let’s forget everything.

Oder man trifft den Teufel an der Kreuzung.
Genau. Wie im Blues. Der Teufel ist immer irgendwo ums Eck. Deswegen kann man Metal mit dem mittelalterlichen Memento mori vergleichen. Er warnt, hält das Bewusstsein wach, dass es den Tod gibt, Krankheit, Seuchen, Klagen, Leid auf Erden. Und dass man das nicht so einfach unterdrücken und verdrängen kann. Blues hatte eine ähnliche Funktion. Jedenfalls, bevor daraus ein durchakademisiert-normalisiertes Genre wurde.

Warum muss Heavy Metal so laut sein? Ist die Apokalypse laut?
Kennst du das neue Buch von Hartmut Rosa? Das ist der Soziologe, der die Resonanztheorie geprägt hat. Er ist Soziologe, eher religiös gesinnt, führt in einem anderen Buch aus, warum die Demokratie Religion braucht. Und er ist Metal-Fan. Er argumentiert, dass die Lautstärke eine andere Resonanzerfahrung erzeugt und eine eher körperliche Dimension hat. Ich kann Musik auch in geringer Lautstärke hören, aber dann habe ich eher ein kognitives Erlebnis. Dieser Lautstärkenkult im Metal ist nicht einfach Kult, sondern es geht darum, dass die Musik den ganzen Körper erfasst und in Schwingung versetzt. Finde ich eigentlich sehr einleuchtend.

Nur gehen dann die Ohren kaputt.
Dann hört man halt mit dem Rest des Körpers. Metal ist auf der einen Seite eine sehr kognitive Musik mit vielen komplexen Patterns, Soli, alles auskomponiert. Auf der anderen Seite ist es sehr körperlich. Auch da «best of both worlds», vielleicht.

Mit der Band damals hatten wir einen kleinen Proberaum, und ich stand neben dem Amp des Bassisten, habe immer den Sound voll aufs Ohr bekommen, und das ist bis heute das schlechtere Ohr. Aber Tinnitus habe ich nicht.

Malmzeit ist also quasi der Selbsterhaltungstrieb, der hervorgetreten ist? (Anm.; Malmzeit ist Schellers seit über zwanzig Jahren bestehendes Duo, das Heavy Metal auf Bestellung ins Haus liefert wie Pizza; dabei sind die Herren in Anzüge gekleidet, spielen im Sitzen und trinken nur Tee.)
Genau. Das bürgerliche Sicherheitsbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit. Aber wenn der Kunde das richtig laut haben will, liefern wir das auch. Wir haben unsere Ohrstöpsel dabei, in dem Sinn sind wir relativ safe.

Wie kommt das bei den «richtigen» Heavy-Metal-Leuten an, so eine ironische Hinterfragung?
Gemischt! Je nach Ironiefähigkeit. Es gibt Leute, die nehmen Manowar ernst. Und Leute, die Manowar ernst nehmen, die hassen Malmzeit. Naturgemäss. Und Metal-Liebhaber, die Ironie oder das Absurde bei Manowar erkennen können, die überhaupt vielleicht ein kritisches und reflexives Verhältnis zu Metal haben, die mögen uns wiederum sehr gern. Denn wir machen uns ja nicht über Metal lustig. Wir haben uns damals überlegt: Wie können wir es anders machen, nicht in diese Klischeeposen reingehen. Das konnte ich irgendwann nicht mehr: auf die Bühne stehen und den hier (Gitarrero-Pose) machen, immer die gleichen Posen, Bein auf die Box, schreien. Da kommt man sich mit der Zeit albern vor. Insofern fanden wir es eine viel radikalere Geste, uns hinzusetzen, Anzüge zu tragen, übers Wetter zu singen und Tee zu trinken. Das kann durchaus auch eine Provokation sein. Manche provoziert es auch wirklich. Es gibt ein Bild von einem unserer Konzerte, wo eine Reihe von Zuhörern demonstrativ mit dem Rücken zur Bühne sitzt. Aber die waren noch jung und sehr identitär.

Das Konzept würde nicht funktionieren, wenn ihr nicht so gut Gitarre spielen könntet, oder?
Kann schon sein. Man zeigt dann auch ein bisschen, dass man könnte, wenn man wollte…

Das ist auch ein Punkt – was immer man im Metal macht, das Wichtigste ist, dass es organisch erarbeitet und gefühlt wird.
Richtig so. Im Metal wird es geschätzt, dass man sich vertieft mit der Materie auseinandersetzt. Der Metaller goutiert Materialkenntnis. Man fachsimpelt sehr gern. Man sagt nicht: Ich hab da diesen einen Song von dieser einen Band gehört und ich fand den ganz gut. Sondern man muss dann schon wissen aus welchem Jahr, welches Album, welche Besetzung. Wenn so ein paar Typen ein Metal-Kostüm anziehen und sich ein paar Riffs anschaffen, dann wird das in der Szene nicht ernst genommen. Kann man im Retortenpop machen.

«Langsame Prozesse sind halt auch nachhaltiger, als wenn das Kulturstaatsministerium käme und sagen würde, in allen Metal-Bands müssen jetzt mindestens 50 Prozent Frauen sein.» 

Du bemerkst irgendwo, dass Frauen weniger auf apokalyptischen Metal ansprechen. Worauf führst du das zurück?
Wenn man die Frage polemisch stellt, kann man fragen: Hat Metal ein Problem mit Frauen? Oder haben Frauen ein Problem mit Metal? Oder haben beide ein Problem miteinander? Ich glaube, traditionell war Metal ein bisschen männerbündlerisch, Kids, die sich in diesen Bandkollektiven organisiert haben als verschworene Gemeinschaft. Und du hältst die anderen eher aussen vor. Und nach traditionellen Geschlechterrollen hat man den Jungs eher nachgesehen, wenn sie so eine Phase hatten, wo sie die Hörner abstossen, ein bisschen saufen, ein bisschen aggressiver waren. Bei den Mädchen hat man das viel stärker tabuisiert. Die Jungs lässt man ein paar Jahre lang Metal machen, dann kommen sie schon wieder zur Vernunft, aber bei den Girls schaut man, dass sie gar nicht erst da reingehen. Was es dann aber auch wieder sehr viel interessanter für Frauen macht, weil Metal ja gerade Musik ist, die nicht von ihnen erwartet wird. Du kannst mit Metal sehr viel stärker Geschlechterklischees aufbrechen als Frau oder Drittgeschlechtlicher oder Trans, Queer, Inter, was auch immer, gerade weil es traditionell so maskulin konnotiert ist. Viele Metallerinnen sagen, dass sie genau deswegen dort reingegangen sind.

Es gibt ja heute auch viel mehr als nur schon vor zehn, zwanzig Jahren.
Ja. Die Entwicklung geht in eine absolut tolle Richtung. Was ich immer schön finde, ist, wenn Diversity nicht von oben orchestriert wird, wenn da nicht jemand darüber wacht, dass gleich viele Männlein und Weiblein repräsentiert sind, sondern dass es sich organisch entwickelt. Und im Metal gehen jetzt mehr Frauen in Bands, gründen Bands, sind auch prominent. Alissa White-Gluz von Arch Enemy zum Beispiel ist schon eine globale Ikone mittlerweile. Da tut sich was. Braucht natürlich seine Zeit, aber so langsame Prozesse sind halt auch nachhaltiger, als wenn das Kulturstaatsministerium käme und sagen würde, in allen Metal-Bands müssen jetzt mindestens 50 Prozent Frauen sein. Sowas funktioniert nicht. Soziale Gruppen kann man nicht designen. Da bin ich dann wieder Anarcho.

Mein grosser Liebling ist ja kein Metaller, ich weiss gar nicht, was er musikalisch präferiert, aber es ist Spongebob, Schwammkopf, die Zeichentrickfilmfigur. Spongebob sagt: You cannot change a person, but you can be the reason for a person to change. Das find ich sehr schön. Übertragen auf Frauen im Metal: Man braucht Vorbilder und Leute, die gewillt sind, Frauen zu featuren, über sie zu schreiben. Man braucht vor allem Frauen, die das selber aktiv betreiben, die das verkörpern.

Ich habe immer recht viele Frauen gekannt, die auf Metal standen. Zum Vergleich: Schon vor dreissig Jahren hatte es in einem Heavy-Metal-Konzert viel mehr Frauen als in einem King-Crimson-Konzert.
Ja! Ich glaub auch im Metal waren sie eigentlich immer schon da, immer schon unterwegs. Aber das wird oft nicht repräsentiert in den Medien oder wenn, dann halt so klischeehaft, «oh, die Powerfrau, oh, wir haben da wieder eine so herausragende einzelne Frau, da schaut her». Statt dass man ganz selbstverständlich die Musik anschaut, die Performance anschaut, darüber berichtet, was sie eben machen. Das haben Motörhead übrigens immer getan. Die fand ich immer absolut sympathisch. Die haben Girlschool mit auf Tournee genommen, Lemmy hat seine Duette gemacht mit Frauen. Das Herz auf dem rechten Fleck.

Die Klischees und Exzesse wurden vor mehreren Dekaden in «This is Spinal Tap» herrlich auf die Schippe genommen. Wie wird dieser Film eingeschätzt von den Heavy-Metal-Fans?
Ich glaub, die Jüngeren kennen ihn inzwischen nicht mehr so. Aber bei den älteren ist er natürlich Kult. Was wiederum zeugt von dieser Ironiefähigkeit der Szene. Dieses immer wieder Zerbrechen an der Grösse der eigenen Geste. Das ist ein bisschen das Prinzip des Metal. Tod und Teufel, Himmel und Hölle, Leben und ich weiss nicht was alles, diese Riesenthemen. Und am Ende ist es halt doch auch Geisterbahn, Kulturindustrie, Spektakel – und einfach Pop. Und das mag ich am Metal immer noch sehr gern. Hat auch etwas Rührendes. Das sich Abarbeiten an diesen grossen Themen und am Ende ist es halt ein Song mit einem Totenkopf auf dem Cover.

Wenn in den 90er- und 00er-Jahren ein Interview ins Stocken geriet, musste man bloss ein Zitat aus Spinal Tap auftischen und gleich lief alles wieder wunderbar.
Meine Lieblingsszene ist immer noch die, wo sie in den Katakomben des Stadions verloren gehen. Sie rennen los, «rock’n’roll», rennen und rennen und wenn sie ankommen, ist das Konzert vorbei. Oder auch die Szene mit dem Verstärker. These go up to eleven! Sowas wird nicht alt.

Was hörst du jetzt so?
Es gibt Klassiker, die hör ich gern beim Training, AC/DC, Guns N’ Roses, Metallica. Classics, die man so gut kennt, dass man auch mal vergessen kann, dass sie als Kulisse laufen. Sonst habe ich in den letzten Jahren nicht so viel kennengelernt, was mich geflasht hätte. Wohl eine Alterserscheinung. Chthonic aus Taiwan finde ich nach wie vor super. Es ist interessant, wie sie diesen eigentlich norwegisch-identitären Metal entdeckt und dann in ihren Begriffen und für ihren Hintergrund und ihre Erfahrungen neu interpretiert haben. «Aha, die Norweger setzen sich für ihre indigenen Traditionen ein, das müssten wir hier doch eigentlich auch tun.» Bei den Norwegern ist es rechts-konnotiert, aber Chthonic sind links. Da sieht man, wie sich die Begriffe und Konzepte verschieben, je nachdem in welche Welt und Gegend man kommt. Dann hör ich immer noch sehr gern Nashville Pussy, das ist schmutziger Schweinerock, finde ich immer noch sehr angenehm. Riverside, polnisch, pink-floydig, aber besser als Pink Floyd. Dann Necromorph, eine deutsche Grindcore-Band, sehr solide produziert, stabil, kapitalismuskritisch, die sehr gut ballert. Total lustig, der Mundart-Grindcore von Muggeseggl – die singen auf Alemannisch. Du verstehst nichts, aber es soll alemannisch sein.

Fast schon dadaisitisch.
Jaja, posieren auch so in Bauernmonturen im Weinberg. Dann hab ich immer wieder so Manowar-Rückfälle. Das ist so krass grotesk und peinlich, dass es eben wieder geil ist. Dann mache ich aber oft auch Ausflüge in die Klassik.

So weit weg ist das ja nicht.
Eben, oft ist es sehr nah dran.

Wie bist du denn als Heavy-Metal-Fan bei Straight Edge gelandet? Ist ja viel mehr eine punkige Geschichte. (Anm.: Eine in den USA gestartete spätere Form von Hardcore-Punk, dessen Anhänger keinerlei Alkohol und Drogen konsumieren, dafür auf körperliche Fitness setzen.)
Dadurch, dass ich recht früh in die Metalszene kam, mit 13, war ich sehr früh mit diesem Saufen konfrontiert. Und mich hat das einfach immer angewidert. Ich mochte das nie. Da trinkst du als Teenager ein paar Bier bei einem Konzert, und mir hat das Zeugs einfach nicht geschmeckt. Ich mochte die Rituale nicht und ich mochte vor allem auch den Gruppenzwang nicht, dass Drogen und Musik so unmittelbar verbunden waren. Da fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Man kann mich in alles Mögliche gut einbinden, kann mit mir arbeiten, kann mich überreden, kann Argumente darlegen, dann bin ich für vieles zu haben. Aber ich reagiere nicht auf Druck. Und dieser implizite oder explizite Druck, du musst jetzt auch saufen, noch einen Schnaps nach dem Bier, damit konnte ich nicht. Da war Straight Edge ein sehr guter Ausweg. Du konntest in diesem gegenkulturellen Bereich bleiben, diesem rebellischen Bereich und musstest gleichzeitig nicht bei den Drogenritualen mitmachen. Ich fand schon damals das Paradox interessant, dass man so eine bürgerlich-asketisch-abstinenzlerische Dimension kombiniert mit einer rebellischen Underground-Dimension: eine total reizvolle Kombination. Und davon habe ich mich innerlich nie distanziert. Dahinter stehe ich noch heute. Es werden zu viele Verbrechen durch Drogen begünstigt. Man setzt Soldaten unter Drogen, um sie in den Krieg zu schicken. Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt hat oft mit Alkohol-Enthemmung zu tun. Darum habe ich mich so entschieden, aber es hatte nichts mit der Musik zu tun. Ich mag einige Sachen sehr gern im Straight Edge, Strife, das Album One Truth etwa. Fugazi liebe ich heiss und innig. Henry Rollins. Die Faszination im Metal war für mich ganz klar die Musik.

Ist es möglich, dass du nie die Apokalypse eines richtigen Katers erlebt hast?
Als Jugendliche haben wir durchaus mit dem Vollrausch experimentiert. Aber ich merkte schnell, dass das nichts für mich ist. Die konstruktive Energie des Straight Edge Hardcore überzeugte mich eher. Und eine wirkliche Apokalypse bedeutet ja die Offenbarung von etwas Neuem und Besserem. Ein Vollrausch ändert erstmal gar nichts. Man krebst einfach langsam wieder zum Normalzustand zurück. Andererseits: Ein Vollrausch, der einen erkennen und beschliessen lässt, den Vollrausch sein zu lassen – das hat zumindest minimale apokalyptische Qualitäten.

Das muss ja irrsinnig Disziplin gebraucht haben, das in dieser Umgebung durchzuziehen.
Jaja, bis heute. Ich bin im Vereinsvorstand Metal Storm Concerts, und da wird um einen rum natürlich getrunken. Du bist immer derjenige, der nicht trinkt, und derjenige, der sich irgendwie erklären muss. Wer trinkt, muss sich nie erklären, das gehört dazu. Wenn man straight edge ist, merkt man erst, wie viel in der Gesellschaft auf Alkohol basiert. Andererseits verehre ich Lemmy, und der hat gesoffen, und wie! Ein Pegeltrinker. Ich glaub auch gar nicht an eine Prohibition, die Entscheidung muss man selber fällen. Und für mich passt das ganz gut.

Ein apokalyptisches letztes Wort?
Die Apokalypse bedeutet ja eigentlich nicht den Untergang, sondern die Offenbarung. Das ist die ursprüngliche Bedeutung im religiösen Sinn: dass sich die letzten Geheimnisse enthüllen. Das übersieht man oft, wenn man von diesen Hollywood-Filmen mit Weltuntergängen herkommt. Insofern war Metal eine Offenbarung für mich. Da ging wirklich eine neue Welt auf. Bis heute empfinde ich eine gewisse Dankbarkeit diesem Genre gegenüber, auch wenn’s eine Hassliebe ist, und viel Peinliches darin steckt, viel Prolliges, vieles was mich stört. Aber dafür, dass es mir damals eine neue Welt aufgetan hat, bin ich bis heute dankbar. Möchte auch diese Verbindung nicht abbrechen. Kleine Offenbarung.

 

Link zur Playlist von Jörg Scheller auf Spotify

 

Holger Jacob hat Jörg Scheller in Zürich vor einigen öffentlich zugänglichen Totentanz-Motiven Harald Naegelis fotografiert. Wo sie überall zu finden sind, ist auf der Website sprayervonzürich.com verzeichnet.

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