Zu den Quellen gehen und auf die Berge
Chouchane Siranossian gehört zu den wenigen Geigerinnen, die ganz selbstverständlich zwischen einem Barockinstrument und einer modernen Violine wechseln. Ein Gespräch über ihr Leben in der Schweiz und armenische Musik.
Chouchane Siranossian, Sie sind beim diesjährigen Bodensee-Festival (27. April bis 20. Mai) Artist in Residence. Welche Beziehung haben Sie zu dieser Gegend?
Ich habe zwei Jahre in der Nähe des Bodensees gelebt, als ich Konzertmeisterin im Sinfonieorchester St. Gallen war. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an eine Bootsfahrt mit meinen Grosseltern. Und war sehr häufig auf dem Säntis zum Bergsteigen.
Auf Ihren jüngsten Alben spielen Sie Barockvioline, im kommenden Eröffnungskonzert in Friedrichshafen dann Mendelssohn auf einem modernen Instrument. Ist dieser Wechsel nicht schwierig?
Nein. Beim Solo-Rezital in der Klosterkirche Münsterlingen spiele ich sogar beide Instrumente in einem Konzert. Es sind verschiedene Welten, zwischen denen ich mich gerne hin und herbewege. Das Barockinstrument hat Darmsaiten und ist anders gestimmt. Auch die Bögen sind natürlich unterschiedlich. In der Barockzeit haben die Musiker häufig verschiedene Instrumente gespielt.
Ihr Solistendiplom machten Sie auf der modernen Violine bei Zakhar Bron in Zürich. Danach waren sie mit 23 Jahren als jüngstes Orchestermitglied Konzertmeisterin im Sinfonieorchester St. Gallen. Wie war diese Zeit für Sie?
Ich habe sehr viel gelernt – musikalisch, aber vor allem auch menschlich. In dieser Position hat man eine grosse Verantwortung. Man ist das Bindeglied zwischen dem Orchester und dem Dirigenten. Jetzt leite ich viele Orchester von der Violine aus.
Wurden Sie gleich akzeptiert vom Orchester?
Das war zu Beginn nicht einfach als junge Frau und dazu noch als Ausländerin. Mir ging es immer um die Musik. Aber jedes Orchester ist ein Mikrokosmos, den man kennenlernen muss. Ich habe wirklich gelernt, mit Menschen umzugehen. Ich habe immer versucht, jede und jeden zu motivieren, das Beste zu geben.
Sie haben die feste Stelle aufgegeben, um nochmals zu studieren – und zwar Alte Musik bei Reinhard Goebel am Mozarteum in Salzburg.
David Stern, der damalige Chefdirigent in St. Gallen, empfahl ihn mir, weil ich viele Fragen zur Musik stellte. Und auch mich in Frage stellte. Als ich Reinhard Goebel dann kennengelernt hatte, war ich sofort fasziniert von seinem enormen Wissen über Alte Musik. Im ersten Jahr bei ihm las ich nur Bücher und studierte Manuskripte, bevor ich wieder die Violine in die Hand nahm. Diese intensive Recherche hatte nicht nur einen grossen Einfluss auf mein Musizieren mit der Barockvioline, sondern auf jede meiner Interpretationen.
Was haben Sie von ihm gelernt?
Alles (lacht). Ich habe durch ihn verstanden, dass es grosse Unterschiede gibt zwischen modernem Violinspiel und historisch informiertem. Der Ausdruck in der Alten Musik wird viel mehr mit der rechten Hand, also mit dem Bogenstrich gemacht. Ich habe gelernt, die richtigen Fragen zu stellen und immer an die Quelle zu gehen – also an das Autograf oder den Erstdruck.
Was spielen Sie lieber? Barockvioline oder moderne Violine?
Da kann ich nicht sagen. Wenn Sie mich fragen, ob ich Französin, Armenierin oder Schweizerin bin, kann ich das auch nicht sagen. Ich bin alle drei. Bei der Violine ist das ähnlich. Italienische Barockmusik spiele ich schon besonders gerne. Aber gerade der Wechsel ist für mich reizvoll.
Sie sind in Lyon geboren, haben armenische Vorfahren und leben schon lange in der Schweiz. Wo ist Ihre Heimat?
Ich lebe seit zwanzig Jahren in der Schweiz. Auch als Kind war ich oft dort, weil ich bei Tibor Varga in Sion Unterricht hatte. Die Schweiz ist mein Lebensmittelpunkt, auch wenn ich oft in Frankreich und ab und zu auch in Armenien bin.
Welche Rolle spielt armenische Musik in Ihrem Leben?
Die armenische Musik war immer präsent. Mein Vater ist auch Musiker und Spezialist der armenischen Musik. Meine Grosseltern haben oft armenische Lieder gesungen. Die armenische Kultur ist gefährdet – nicht nur durch den türkischen Völkermord 1915, sondern auch gegenwärtig in Bergkarabach, wo Armenier durch die Besatzungsmacht Aserbaidschan vertrieben wurden. Sie möchten auch unsere Kultur auslöschen, aber unsere Musik können sie nicht zerstören. Deshalb ist es wichtig, diese Musik zu pflegen und öffentlich zu machen.
Was zeichnet armenische Musik aus?
Armenien ist das erste Land, das im Jahr 301 offiziell christlich geworden ist. Deshalb spielt die religiöse Musik eine grosse Rolle. Daneben ist Volksmusik sehr wichtig. Der Komponist Komitas hat viel davon aufgeschrieben, bevor er wegen des Völkermordes, den er erleben musste, verrückt wurde. Armenien war immer eine Brücke zwischen Europa und dem Orient – das ist auch zu hören.
Auf Ihrer Website sind Sie im Abendkleid mit einer Violine in der Hand auf einem Berggipfel zu sehen. Ist das Foto echt oder eine Montage?
Natürlich echt. Bergsteigen ist eine grosse Leidenschaft von mir. Ich habe auch schon auf dem Mont Blanc Violine gespielt. 2020 war ich noch auf dem Matterhorn, bevor ich zum ersten Mal schwanger wurde.
Was gefällt Ihnen am Bergsteigen?
Die Freiheit. Der Kontakt zur Natur. In den Bergen ist man weg vom Lärm, weg von den Menschen. Diese Stille geniesse ich sehr. Bergsteigen ist für mich auch eine Art Meditation – zurück zu meinen Wurzeln. Mit zwei kleinen Kindern muss ich noch darauf verzichten, aber irgendwann kann ich sie mitnehmen in die Berge. Und im Rucksack sind sie jetzt schon dabei bei kleineren Touren.
Welche Verbindungen sehen Sie zwischen Geigenspielen und Bergsteigen?
Wenn ich mich stundenlang in der Natur bewege, kommen mir die besten musikalischen Ideen. Diese frische Luft tut mir einfach gut. Alleinsein in der Natur ist wirklich eine grosse Inspiration für mich. Musik heisst auch immer, eine Geschichte zu erzählen. Nach einer Bergtour habe ich viel neue Seelenkraft – das tut meinem Musizieren gut.
Sie konzertieren auch mit Ihrer Schwester, der Cellistin Astrig Siranossian. Ist es leichter oder schwieriger, mit der eigenen Schwester zu spielen?
Beides. Leichter ist es, weil wir uns so gut kennen und uns auch wunderbar ergänzen. Aber wir sind auch gegenseitig die grössten Kritikerinnen und in den Proben besonders streng zueinander.
Was bedeutet Ihnen Familie?
Alles. Ich kann heute auf die Bühne gehen, weil ich meine Familie habe, die mich unterstützt. Ich bin immer unterwegs mit meinen beiden Kindern. Ich bin auch mit einer sehr grossen Familie aufgewachsen. Wenn wir ein Familienfest feiern, sind wir schnell über hundert Personen.