Jürg Frey in Huddersfield im November 2015. Foto: Brian Slater/HCMF

1973, als Sie zwanzig waren, welche Musik haben Sie damals so gehört?
Jürg Frey: Mein Einstieg geschah über Free Jazz und von da aus zur Zeitgenössischen Musik. Klassik war auch da, aber am Rande. Das Studium war dann klassisch. Der Saxofonist John Surman gefiel mir sehr gut, zumal ich zu der Zeit selber viel Saxofon spielte.

Die englische Szene hat Ihnen mehr zugesagt als die amerikanische?
Ich habe das Gefühl, dass dies tatsächlich so war. Klar – Christian Wolff, ein Amerikaner, aber vor allem auch Cornelius Cardew, ein Engländer. Selbstverständlich habe ich aber vieles gehört. Auch Stockhausen, Boulez, Nono. Aber es gibt ja immer Sachen, die man hört, und Sachen, die einen elektrisieren. Und das waren schon Cardew, das Scratch Orchestra, und Christian Wolff. Ebenfalls sehr beschäftigt hat mich das Album, das die Rockband Deep Purple mit einem Orchester aufnahm. Wie ich mich erinnere fand ich das unglaublich. Vor zwei Jahren habe ich es mir wieder einmal angehört. Es war nicht mehr so interessant, musikalisch. Aber sozial war das sicher ein interessantes Experiment.

Was ging Ihnen durch den Kopf bei der gestrigen Aufführung der beiden Quartette in der St. Paul’s Hall?
Mit dem Ensemble Quatuor Bozzini arbeite ich schon lange zusammen. Isabelle Bozzini, die Cellistin, sagte mir gestern, dass die erste Aufführung von den beiden Stücken im Jahr 2001 stattfand. Seither waren wir immer in Kontakt. Es war sicher eine der besten Aufführungen, die ich erlebt habe von den zwei Stücken, sehr konzentriert. Das andere war das: So ein Saal, mit so vielen Leuten, das ist für mich ungewöhnlich. Es war eine schöne Erfahrung, zu sehen, dass es möglich ist, dass ein ganzer Saal so lange konzentriert bleiben kann. Es war gut zu erfahren, dass die Musik einen Saal trägt über eine ganze Stunde. Das hängt einerseits von der Interpretation ab, aber es ist auch dem Stück zuzuschreiben. Das Stück kann das.

Können Sie den Vorgang des Komponierens beschreiben?
Ich fange mit einer Wolke an, wo noch überhaupt nichts klar ist. Ich schreibe einfach Sachen auf. Der Vorgang des Schreibens ist wichtig, einfach schreiben, ich liebe das. Manchmal sind es Sachen, die sind gar nicht im Stück, das ich schaffen will. Es ist nicht so, dass ich mir sage: Das kommt am Anfang, das in der Mitte, das am Schluss. Ich arbeite viel mit Skizzenbüchern, schreibe und zeichne von Hand. So fliege ich in der Wolke nach oben, bis ich sehe, dass sich an gewissen Orten gewisse Sachen etwas verfestigen, dass dort etwas zu finden sein könnte. Das ist dann der Moment, wo man zwei Stockwerke hinunter geht im Haus und sich ans Klavier setzt. Man weiss aber natürlich schon jetzt, wie es tönen wird. Aber der Kontakt zum Machen des Klanges ist wichtig. Und eigentlich ist es auch gut, etwas Bewegung zu haben zwischenhinein. So ist es dann, wie wenn sich die Wolke zu Material verdichtet.

Wie beim Dichten. Ein Satz fällt ein, ein anderer, ein anderer, plötzlich sieht man einen stimmungsmässigen Zusammenhang und schiebt die Sätze zusammen.
Genau. Das kann man sich so vorstellen. Ein paar Sachen sind intuitive Entscheidungen, aber es gibt auch ganz rationale Entscheidungen.

Das klingt recht spielerisch. Spielt der Zufall eine wichtige Rolle?
Es mag ein bisschen spielerisch klingen, wenn man das so sagt. Aber es ist kein Spiel. Ich arbeite nicht mit Zufall wie es Cage gemacht hat. Man stellt gewisse Fragen, und sucht dann Antworten.

Können Sie beschreiben, wie Sie Stille entdeckt haben?
Schon meine ganz ersten Stücke aus den 70er-Jahren sind sehr ruhig. Es gab nicht eine Entdeckung in dem Sinn. Es gibt ja Kollegen, die machten am Anfang heavy Musik, und sind dann auf einmal leise geworden. Bei mir war es schon am Anfang still, aber dann gab es eine Verschärfung auf die Stille. Das war anfangs der 90er-Jahre. Das hängt auch mit Wandelweiser zusammen. Die Gruppe war damals gerade am Entstehen. Das war die Initialzündung, dass diese Leute zusammenfanden. Es hatte die Radikalisierung der Möglichkeiten zur Folge. Man kann in einem Stück auch mal zehn Minuten still sein! Dies nicht im Sinne von Cage, wo man dann alles andere hört, sondern im Sinne von einer Entscheidung im Stück, wo man einem Block Stille zuschreibt wie einem anderen Block Töne. Es ist nicht eine Pause in dem Sinn. Es ist wie ein Statement. Das Stück ist 30 Minuten, aber man hat zwischen der 12. und der 22. Minute Stille. Ich habe das sehr architektonisch wahrgenommen.

Für mich hat Ihre Musik eine fast körperlich wirkende Ausstrahlung in dem Sinne, dass sie Räume schafft, die das Fliessen von Gedanken geradezu erzwingen. Sie selber reden ja oft von Architektur und Räumlichkeit. Die Stille quasi wie der Innenhof eines Gebäudes? Der Wandelgang?
Das habe ich jetzt grad vorhin genau so gedacht aber nicht gesagt, und nun sagen Sie es. Ich habe oft das Bild von einem Platz, einem Innenhof. Das Wichtige am Platz ist der Ort, wo die Häuser nicht stehen. Diese Vorstellung steckt drin – wie die Stille beeinflusst wird durch das, was vorher war. Bei der Rezeption der Stille kann man nichts kontrollieren. Der eine denkt das, der andere etwas ganz anderes … Und dann plötzlich ist die Musik zurück, und – schwupps – die Konzentration ist wieder da.

Die Beschäftigung mit Stille und Absenz von Tönen, hat das eine sozialkritische Komponente? Ist es der bewusste Versuch, gegen das Chaos der heutigen Informationsbeschallung anzukämpfen?
Das ist ein bisschen ein Nebeneffekt. Es ist nicht mein Antrieb. Ich will nicht sagen: So viel Lärm rundum, wir brauchen wenigstens in der Musik einen ruhenden Pol. Das ist es nicht, was mich interessiert. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich eine Art Gegenwelt kreiere. Chaos und Lärm im Inneren hat nichts damit zu tun, dass es draussen lärmig ist. Es würde mich auch zu stark einengen. Manchmal habe ich den Gedanken gehabt, dass die ganz reduzierte Art meiner Arbeit vielleicht eine Reaktion war in den 90er-Jahren auf die Wirtschaft, auf das Anhäufen von Geld und auf das exzessive «grösser, lauter, höher». Aber auch das war kein bewusster Gedankengang.

Mit den Repetitionen, den langsamen Wechseln, die in Ihrer Musik solche Spannung erzeugen, scheint diese einiges mit der Arbeit von gewissen Musikern gemeinsam zu haben, die im Bereich der elektronischen angesiedelt sind. Hören Sie so etwas, Aphex Twin zum Beispiel?
Ich muss sagen, nein. Brian Eno, ja. Den kenne ich natürlich. Als er in den 80er-Jahren in mein Blickfeld kam, war ich selber noch am Suchen. Aber es ist nicht so, dass ich die Szene genauer verfolge.

Was heisst Composer in Residence in Huddersfield konkret für Sie?
Ich darf über das ganze Festival hinweg hier sein. Ich konnte bestimmen, was von meiner Musik gespielt wird. Ich konnte eine Wunschliste schicken, und viele von den Wünschen sind erfüllt worden, mit den Leuten, mit denen ich es machen wollte. Am Morgen führe ich einen Meisterkurs über Komposition mit ein paar Studenten. Ich konnte die Installationen einrichten. Im Ganzen gab es mir die Möglichkeit, die Essenz meiner Arbeit aus den letzten zehn Jahren zusammenzustellen und ihr einen Fokus zu geben. Das ist ein echtes Privileg.

Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie die Installationsorte ausgesucht?
Vor einem Monat bin ich zwei Tage hergekommen und habe ein Dutzend Orte angeschaut, zusammen mit dem Tontechniker. Etliche Räume sind weggefallen, weil sie zu laut waren. Ich konnte damals entscheiden, welche Räume wir gebrauchen wollten. Zum Beispiel das Museum für die Landschaft mit Wörtern für drei Lautsprecher, Klänge und einzelne Wörter. Für mich ist das einerseits ein Textstück, andererseits auch ein bisschen ein Stillleben – Trauben, Hühner, Dörrfrüchte und jetzt sind es halt Wörter: Stein. Schwarzwasser. Eine andere Installation wurde in der Byron Arcade eingerichtet. Ein altes Gebäude, drei Stockwerke rund um einen Innenhof mit allerhand kleinen Läden und einem Café. Dort sind dann kleine Pfiffe und Piepser zu hören, wie Vogelgeräusche. Das ist dann eher wie eine Komposition. Eine Raumgeschichte. Die einzelnen Piepser sind wie Lichttupfer im ganzen Raum verteilt. Akustisches Licht.

Wie sind Sie damals den Wandelweiserleuten begegnet?
Ich war ja einer der ersten. Die Freundschaft, die schon vorher bestand, war mit Antoine Beuger. Wir haben uns getroffen im Künstlerhaus Boswil in der Schweiz, dort gab es 1991 ein Kompositionsseminar das hiess «Stille Musik». Es war zwar eigentlich keine Stille Musik, aber von dort an hatten wir Kontakt. Dann hat er mit der Wandelweiseridee angefangen. Ich bin 1993 dazu gestossen, es war ein ganz natürlicher Vorgang.

Vorher haben Sie isoliert im stillen Kämmerlein vor sich hin gewirkt?
Das ist richtig, ja.

Frustriert?
Nein, überhaut nicht frustriert. Ich hatte damals die Vorstellung, das ist halt so für einen Komponisten. Ich hatte nicht viele Aufführungen, aber das hat mir überhaupt nichts ausgemacht. Es war ein Bild, das ich mir durchs Lesen über Künstler gemacht hatte. Ich dachte, das ist normal, dass man arbeitet und sich niemand dafür interessiert. Das hat sich ja jetzt geändert.

Wie oft kommt die Wandelweisergruppe zusammen?
In den ersten zehn Jahren häufiger als heute. Das war ja unglaublich spannend damals, plötzlich hat man gemerkt, dass es ein paar andere Leute gab, die auch meinten, sie seien die einzigen, die so radikal stille Sachen machen. So wurde es vor allem eine künstlerische Diskussionsgruppe. Das ist daran eigentlich immer noch das Interessanteste. Ein Stück schreiben, zusammen spielen und besprechen. Wir sind immer in Österreich für eine Woche zusammengekommen. Jeder hat ein, zwei Partituren mitgebracht. Am Montagmorgen sind wir alle um den Tisch gehockt, und haben die Sachen ausgepackt, wie Geschenke. Und man hat geschaut, was gibt es für Möglichkeiten, dass man das alles innert einer Woche zusammenbringt und etwas draus macht. Diese Diskussionen waren für mich einmalig. Diese Freude über die Superstücke, die man vor sich hatte, und es war toll, dass andere sich für deine Sachen interessiert haben. Das haben wir zehn, zwölf Jahre durchgezogen. Ein anderes Beispiel. Bei einem Konzert gab es keine fixe Bestuhlung und wir konnten die Stühle hinstellen wie wir wollten. Daraus entstand dann eine vierstündige Grundsatzdiskussion, die eigentlich eine Diskussion über das Komponieren war. Jetzt sind wir 20 Jahre älter. Die essentiellen künstlerischen Fragen sind geklärt. Mit 60 ist das nicht mehr so dringlich. Von dem her ist es eine normale Entwicklung. Bei der Mitgliedschaft gibt es immer ein bisschen Änderungen. Eine der Schwierigkeiten wenn man älter wird ist die Gefahr des Verkrustens. Nun passiert mit Wandelweiser etwas Schönes, es heisst Wandelweiser und so weiter. Eine neue Generation. Simon Reynell zum Beispiel, er führt das Plattenlabel Another Timbre für frei improvisierte Musik. Er hat gemerkt, dass Wandelweisermusik auch von der improvisierenden Szene gespielt wird. Er hat unseren Katalog durchforstet nach Stücken, welche diese Szene spielen könnte und hat Aufnahmen gemacht, sechs CDs bis jetzt.

Wie sehen Ihre Pläne nach Huddersfield aus?
Ich werde komponieren. Wenn ich wieder dran bin, dann bin ich das jeden Tag, drei, vier Stunden lang. Die Zeit wird einfach frei gestellt dafür, egal, ob ich dann wirklich Zeichen aufs Blatt setze oder ein bisschen lese oder sonst wie herumbäschele. Es ist ein Zeitraum, den ich mir immer gebe, wo alles im Zeichen des Komponierens steht. Das ist ganz wichtig. Eine simple Strategie, die funktioniert.

Gibt es ein konkretes neues Projekt?
Es gilt, ein Chorstück fertigzustellen. Es wird am 2. April in London uraufgeführt werden. Exaudi heisst der Chor, acht Solostimmen sind es.

Die neuesten CDs von Jürg Frey

Quatuor Bozzini, Lee Ferguson, Christian Smith: Jürg Frey – string quartet no.3 unhörbare zeit (Edition Wandelweiser)

Philip Thomas, Piano: Jürg Frey – Circles and Landscapes (Another Timbre).

www.wandelweiser.de
www.anothertimbre.com/index.html

Nachtrag 18. Juli 2023

2022 erhielt Jürg Frey einen Schweizer Musikpreis

https://www.juergfrey.com