Musik mitteilen: offene Kompositionen von Max E. Keller
Einige frühe Stücke von Max E. Keller eignen sich als Beispiele für offene Kompositionen für mitschaffende Musikerinnen und Musiker. Der dänische Musikwissenschaftler Carl Bergstrøm-Nielsen zeigt ihre Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen auf und weist Bezüge zu späteren Werken nach.
Neue Musik nach dem zweiten Weltkrieg war anfänglich detailliert auskomponiert, wenigstens bei uns in Europa. Es dauerte jedoch nicht lange, bis verschiedene Formen von Offenheit in der Aufführung kamen. Die Entwicklung bei Stockhausen ist ein anschauliches Beispiel dafür und bietet einen ganzen Katalog von Verfahrensweisen: Zeitmasse von 1956 operiert mit «Unschärfegraden» im Tempo. Klavierstück XI von 1958 besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die in nicht zuvor festgelegter Folge gespielt werden müssen, und ihre Inhalte sind auch variabel gemäss dem zuletzt gespielten Abschnitt.
In den späten Sechzigerjahren wurde die Offenheit radikal: Prozession von 1967 und eine Reihe weiterer Werke bedienten sich einer einfachen Notation, aus Plus- und Minuszeichen bestehend. Sie stand für bis vier frei gewählte, jedoch konsequent durchzuführende, gleichzeitig stattfindende Parameteränderungen. Schliesslich bestanden die beiden Sammlungen Aus den Sieben Tagen und Für kommende Zeiten (1968 und 1976 publiziert) hauptsächlich aus Texten. Verbale Mittel können Material be- oder umschreiben, traditionelle Formsequenzen oder auch individuelle, zyklische Formeln festlegen und vieles mehr.
Wer vorbringen will, dass es damals zwar eine Fülle von solchen Experimenten gegeben habe, sie seien aber eine Kuriosität der Geschichte geblieben ohne grosse praktische Bedeutung, der irrt sich. Zwar können die Sechziger- und Siebzigerjahre als «goldenes Zeitalter» dafür erscheinen, doch weitergehende Konsequenzen zeigten sich erst allmählich, jenseits von Sensation und Mode. (1 Anmerkungen siehe unten) Einige Komponisten machten daraus eine Spezialität. John Zorn etwa wurde in den Achtzigerjahren zur Kultfigur mit seinen Game Pieces, Cobra insbesondere. Sie waren vor dem Hintergrund von Christian Wolffs Kompositionen entstanden, die u. a. auf Interaktion zwischen den Spielern bauten. (2) Das Gesamtbild der Strömungen wurde komplexer. (3)
Obwohl improvisatorische Aufführungspraxis in Neuer Musik nicht überall üblich ist, sind doch Ensembles wie das Berliner Splitter Orchester (4), Zeitkratzer oder das Ensemble Modern bekannt. Die Literaturhinweise zu diesem Artikel deuten schon an, dass seitdem auch etwas geschehen ist, kompositorisch wie in der Forschung. Die Notenbeispiele von insgesamt 165 Autoren im Buch Notations 21 wurden sogar meistens im neuen Jahrtausend geschaffen. (5) Neuere Besprechungen sind Nonnenmann (2010) über Mathias Spahlingers Doppel Bejaht, und Neuner (2013).
Improvisation hat sich als eine experimentelle Praxis neben der Komposition ausgebreitet. Das gilt einerseits im Konzertleben: Eine gar stürmische Debatte trug sich zu in der Schweiz im Jahre 2010. (6) Andererseits wird Improvisation jetzt auch in den Musikhochschulen implementiert. (7) So kommt denn auch dem ganzen Zwischenbereich von Übungen, Absprachen, Konzepten ein erneuertes Interesse zu. Oder sagen wir einfacher: der offenen Komposition. Es geht ja um die Verwendung kompositorischer Verfahren in einem neuen Kontext von Aufführungspraxis. (8) Das Neue an der historischen Situation, jetzt, 60 Jahre nach Stockhausens Zeitmasse, könnte sein, dass die Integration von Improvisation und Komposition üblicher geworden ist. Der Komponist ist nicht mehr das einsame Genie. Teamwork, ein gewisses kollektives Räsonnieren und Handeln, ist selbstverständlicher geworden, wie ja auch in der Gesellschaft überall.
Neulich wurde in MusikTexte ein Artikel über die Kompositionen von Max Eugen Keller publiziert. (9) Die frühen Kompositionen für Improvisatoren wurden da indessen nicht behandelt. Den vorliegenden Artikel kann man daher als eine Ergänzung lesen oder einfach als eine Präsentation von Beispielen offener Kompositionen vornehmlich aus der Zeit um 1970. Es findet sich bei Keller eine Fülle von Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen, wie ich im Folgenden auszuführen versuche. Es werden im folgenden nur die Spielpläne wiedergegeben und einiges mehr referiert – die vollständigen Versionen mit sämtlichen Erklärungen kann man bei IIMA im Internet lesen: http://intuitivemusic.dk/iima/mk.htm
Psychogramm
Der Ausführende soll während dem Spielen frei zwischen den 22 beschriebenen Verhaltensweisen wechseln. Die 4 grossgeschriebenen Wörter geben Ausgangspunkte an, die z. B. nützlich für den Anfang sein können. Grossformal haben wir es hier also mit einem aleatorischen, kaleidoskopischen Verlauf zu tun. (10) Es gibt eine endliche Zahl von Elementen, die von allen benutzt werden, unabhängig voneinander und in unvorhersehbarer Reihenfolge. Doch ist eine oft vorkommende Wiederkehr von Elementen wahrscheinlich.
Viele Instruktionen beschreiben musikalisches Verhalten, geben dabei nichts konkret Klingendes an, sondern beschreiben Relationen. Sie sind oft anderen Musikern entgegengesetzt, viele beschreiben aber auch das Unterordnen. Einige wenige befinden sich in einem quasi neutralen Mittelbereich, so besonders «Vermittle zwischen Kontrasten».
Der ästhetische Fokus richtet sich auf Konflikte und Kontraste, deren Formen in der Musik systematisch zugelassen und erforscht werden. Das Element «Pendle zwischen Kontrasten, ohne zu vermitteln» kann emblematisch dafür stehen. Die herkömmliche Praxis von Melodie und Begleitung wird nicht abgeschafft, aber sie bekommt die Möglichkeit des Kontrastierens zur Seite gestellt. Das kann man als eine Wiederentdeckung von Polyfonie bezeichnen. Sie wurde ja historisch vom harmonischen Denken in Akkorden, Melodie und Bass verdrängt. Ein Begriff wie «Imitation» deutet doch auf Formen menschlicher Kommunikation hin. Emotionalität kommt hier auch unvermeidlich ins Spiel, vergleiche auch den Titel des Stückes. Aber nicht um das einsame, expressionistische Individuum geht es hier: Affekt wird umgedeutet ins Soziale.
Die 22 Elemente lassen sich in ein Kontinuum oder, vielmehr, in mehrere einordnen, je nach Interpretation. Das könnte ein Kontinuum sein zwischen Selbstbehauptung und Unterordnung, zwischen –Gegensatz und Angleichung oder auch anderem. Das Denken in Kontinua war historisch eine Entdeckung der Serialisten. Wie Melodien Skalentöne umstellten, so konnte man dieses Prinzip auch in anderen Dimensionen verwenden. Das gilt zum Beispiel in Gesang der Jünglinge von Stockhausen für den Klang, der sich auf einer vorgestellten Linie, einem Kontinuum, zwischen elektronischen Klängen und Knabenstimmen scheinbar ganz zwanglos und «frei» bewegt. Die Methode dient so der Differenzierung und Integration des Materials.
Eine weitere Instruktion in den Erklärungen zu Psychogramm, die auch zur Differenzierung beiträgt, schreibt vor, dass die Spieler kontinuierliche Übergänge oder auch Sprünge zwischen den Elementen machen dürfen.
Stück für Improvisatoren
Die Grossform hier ist nicht aleatorisch, sondern sequenziell und bogenartig. Nach dem freien Spiel werden zuerst weitere Sektionen mit unterschiedlichem Material definiert, insgesamt 13. Dabei erreicht der Prozess ein Maximum an detaillierter Bindung in K und endet danach in N wieder im «freien» Spiel.
Der Prozess beruht auf Heterofonie: Das heisst hier, dass alle denselben Ablauf spielen, jedoch jeder in seiner eigenen Ausformung und in seinem eigenen Tempo, so dass die Übergänge fliessend werden. Strategisch ist es, dass die Sektionen klar unterschiedlich sind. Nur durch hörbares Feedback unter den Musikern wird die Koordination möglich.
cum processio tum missa non est…
Die Grossform entwickelt sich fort aus einer anfänglich als relativ einheitlich erkennbaren Mischung, «thematische Struktur» genannt (die innerste Zone mit a), b) und c)). Die Entwicklung unterliegt zuerst Regeln, die eine Einheit im Übergang von der einen zur jeweils nächsten Zone gewährleisten, daher werden in Zone 2 und 3 neue Regeln eingeführt. Nur das letzte Stadium, Zone 4, ist ganz ad libitum. Der Prozess wird zunehmend differenziert oder auch labyrinthisch. Eine bogenartige oder zyklisch-formelhafte Rückkehr zu früher gespieltem Material ist auch möglich, gewissen Regeln und den Pfeilen folgend.
Heterofonie ist hier wieder ein strukturell tragendes Prinzip (= alle bewegen sich in ähnlicher Weise mit Variationen). Sie wird aber auch überlagert vom Labyrinthischen, das aus dem Gebrauch unterschiedlicher, aleatorischer Elemente resultiert (= alle können einander in den späteren Stadien kontrastieren). Immerhin sind die aleatorischen Elemente innerhalb ihrer drei Kategorien in den zwei ersten Zonen einander deutlich ähnlich, so dass vorab eher eine Variation des schon Dagewesenen als völliger Kontrast erzeugt wird.
Minima
Wie in Psychogramm wechseln die Spieler hier individuell zwischen Elementen, die in diesem Stück aber frei grafisch notiert sind. Doch zeigen die Nummern über den Elementen die Dauer an: 1 = möglichst kurz, 5 = möglichst lang. Der Kontinuums-Gedanke ist auch hier am Werk und verhindert, dass die Elemente eine standardisierte Länge bekommen. Für eine ähnliche Variation der Pausenlängen ist auch gesorgt: Nach jedem Element macht der Spieler eine Pause, deren Länge dem Kreis entnommen wird. Die Nummern darin werden auf der gleichen Weise wie zuvor gedeutet. «A» und «E» zielt auf Zusammenfälle mit Anfang oder Ende von Elementen anderer Spieler, sofern «einigermassen zwanglos» möglich. Ausserdem gilt generell: «Das klangliche Ergebnis soll eine sehr dünne, durchsichtige Musik sein».
Minima ist relativ einheitlich im Klang und kontrastiert dadurch die anderen Stücke. Aber Variation in der polyfonen Dichte ist strategisch sehr wichtig. Der Komponist sichert sich durch die systematisch variierte Festlegung der Längen von Elementen und Pausen, dass nicht alle zur gleichen Zeit spielen und dass Pausen so oft und so variiert vorkommen, dass die Zahl der aktiv Spielenden ständig variiert. Dabei kann man auch damit rechnen, dass selbst bei derselben Dichte verschiedene Konstellationen von Spielern auftreten, was auch zur Variation beiträgt.
Zusammenfassende und perspektivierende Bemerkungen
Kompositorische Analyse und Ausarbeitung
Diese kleine Auswahl von vier Stücken umfasst Extreme von klanglich vehementen Interaktionen in Psychogramm bis hin zu den dünnen, durchsichtigen Klängen aus dem Reduktionismus von Minima. Dagegen sind Stück für Improvisatoren sowie cum processio … eher eklektisch im Material. Menschliche Interaktionsformen, Wechsel von Stadien, die von allen Spielern «karawanenartig» durchwandert werden, labyrinthischer Prozess und sensitive Variation in der polyfonen Dichte sind ausgewählte kompositorische Aspekte. Die Stücke sind nicht auskomponiert im Sinne von Detailliertheit auf der Mikroebene – wohl aber in dem Sinne, dass sie auf Ideen beruhen, die kompositorisch ausgewertet und dann systematisch ausgearbeitet wurden. Die 22 Interaktions-Elemente in Psychogramm und die 27 grafische Elemente in Minima sind immerhin Beispiele einer Detailliertheit, die weitgehend genügt, um eine Fülle von Möglichkeiten deutlich zu suggerieren.
Notation und wie sie die Form mitdefiniert
Text spielt eine grosse Rolle in der Notation dieser Auswahl. Mit verbalen Mitteln kann man bestimmte Klänge bezeichnen, auch solche, die jenseits der zwölf Töne liegen, z. B.: «Zw. zwei Farben kontinuierlich abwechseln.» Man kann aber auch Relationen beschreiben zwischen Klängen oder zwischen Musikern, wie dies so prominent der Fall in Psychogramm war. Anders als mit Wörtern hätte man sie doch kaum definieren können. Und mit Noten wären zwar Nachahmungen von Affekten und Reaktionen möglich – aber um den Preis der Lebendigkeit.
Freie Grafik ist auch in zwei Stücken von Bedeutung (Minima und cum processio). Freie Grafik verstehe ich hier im Unterschied zu formalisierten Zeichensystemen. Man denke etwa an die Plus-Minus-Notation von Stockhausen, was das Formalisierte betrifft. (11) Doch ist es hier auch relevant zu bemerken, dass schon das Layout ein wichtiges Mittel zur Formalisierung ist. Die einfache, lineare Sequenz in Stück für … wird den gleichberechtigten, aleatorischen Elementen in Psychogramm und Minima und zugleich der konzentrischen Struktur in cum processio gegenübergestellt.
Detaillierte oder konzise Vorlage
Weil diese vier Stücke eine weitere Entfaltung durch improvisatorische Mitwirkung seitens der Musiker voraussetzen, sind sie kurz und konzis, leicht zu lesen und zu überblicken – egal, ob sie nun «Konzepte» oder «offene Kompositionen» heissen sollen. (12) Wenn eine in allen Details ausgearbeitete Version nicht mehr gefordert wird, dann kann das Werk, wie der französische Komponist Jean-Yves Bosseur formuliert, zu «einem starken Organismus, mit seinen vollen Potenzialen» werden. (13) Eine in allen Details ausgearbeitete Version würde nach diesem Gedankengang «weniger» bieten, weniger Diversität der möglichen Versionen. (14) Der österreichische Komponist Christoph Herndler (2011) ist hiermit ganz auf einer Linie: Wenn es um die schriftliche Form geht, ist es sein Ziel, «die Musik nicht nur festzuhalten, sondern auch mitzuteilen».
Materialbegriff und Aufführungspraxis historisch
Die Aufführungspraxis wandelt sich historisch auch in unserer Zeit. (15) Aus der Perspektive der grossen Linien gesehen, kann das nicht losgelöst vom Materialbegriff in der Neuen Musik betrachtet werden. Mit einer Bezeichnung, die von Levaillant (1996) stammt, gehen wir grundlegend vom «rohen Klangmaterial» aus (Le fait sonore brût), sowohl im frühen Serialismus als auch in freier Improvisation. Nicht nur die klanglichen Begrenzungen der Notenschrift, auch das Wünschenswerte darin, die Entitäten, womit man komponiert, in allen Hinsichten frei definieren zu dürfen, fordern dazu auf, nach Lösungen jenseits der Kompromisse des traditionellen Notenschreibens zu suchen. Und schon gar nicht zu sprechen von gewissen interessanten menschlichen Erfahrungen. (16)
Allmählich verblasst die Autorität alter Theoretiker wie Dahlhaus und Adorno, für die ein Delegieren seitens des Komponisten nichts anderes als ein Mangel an Verantwortung bedeutete. Kopp (2010) berührt die historische Dimension, indem er noch gegen die beiden genannten Autoren argumentiert. Jahn (2006) ist hingegen für die traditionelle Schrift. Er führt eine eigenständige These aus, indem er gegen zu grosse «Freiräume» in Kompositionen auf psychologischer Grundlage argumentiert. Dabei illustriert er seine Ansicht mittels der Metapher einer Leitplanke an der Autobahn – die Leitplanke repräsentiert, was notiert ist, die Musik selber ist alles, was nicht notiert ist. Wieso nun das sehr geregelte Fahren auf der Autobahn ein so hohes Ideal für das ästhetische Streben werden kann, habe ich nie ganz verstanden, doch jedem das Seine!
Die Bedeutung von Interaktion und die Folgen für die Formbegriffe
Psychogramm zeigt eine originelle Verwendung von Interaktion als kompositorisches Material. Das Stück ist ein frühes Beispiel für eine systematische Ausarbeitung differenzierter interaktiver Rollen – interessanterweise noch vor der Publikation des Artikels von Vinko Globokar über Das Reagieren (17), der ganz ähnliche Rollen beschreibt. Siehe hierzu auch noch den Artikel von Keller selbst (1973) über die Bedeutung sozialer Prozesse und Erlebnisse von Gemeinschaft, auch seitens der Hörer.
Generell ist, wie oben bei der Besprechung dieses Stücks angedeutet wurde, Polyfonie, und zwar eine direktere, wiederentdeckte, bei improvisatorischer Aufführungspraxis von Relevanz. Es leuchtet ein, dass das strikt Homofone abhängig von einer äusseren Koordinierung ist. Heterofonische Techniken liegen auf der Hand – in Stück für Improvisatoren erzeugt dieses Prinzip wegen der karawanenartigen Anlage sowohl vertikale wie horizontale Diversität bei den Übergängen zu neuen Sektionen und ebenso Stellen, die von Konsens geprägt sind. Der Komponist kann lineare Verläufe in gröberem oder feinerem Umriss festlegen, doch weil der interaktive Prozess leicht zu unvorhergesehenen Entwicklungen tendiert, kann Aleatorik einen neuen Stellenwert bekommen, und zwar für die Form. Sie sorgt in Psychogramm und Minima dafür, dass der Musiker ständig freie Wahlmöglichkeiten hat. Hier sind wir weit entfernt von den feingeschnittenen, herumwirbelnden Strukturen bei Penderecki und anderen polnischen Komponisten, die sich ja auf einer Detailebene abspielen. Es gibt noch viel zu erforschen, wie Musiker durch ihre Wahl im Spiel den Formverlauf beeinflussen oder bestimmen können.
Schlussfolgerung
Die vier Stücke von Keller machen Gebrauch von einer beträchtlichen Reihe kompositorischer Methoden und Griffe: eingehende Analysen des Materials, Aleatorik auf Form bezogen, Polyfonie, Heterofonie, sequenzielle Form, Labyrinthform, Relationen als musikalisches Material, nichtetablierte Notationsformen. Sie tragen dazu bei, herkömmliche Komposition mit einer noch relativ neuen Form von Aufführungspraxis zu verbinden. Interaktion beeinflusst die Form der Zusammenarbeit. Es werden konzise Notationen verwendet, welche die Idee des Komponisten unmittelbar mitteilen und somit ein Minimum an analytischer Entzifferung braucht – sowohl für Musiker als für interessierte Hörer.
Appendix: Spätere offene Werke Kellers
Musik wird innerhalb verschiedener Traditionen unterschiedlich hervorgebracht. Die weitaus am meisten gespielte klassische Musik wird heutzutage aufgeführt, ohne dass improvisatorische Fähigkeiten dazu nötig wären. Doch sie verlangt weitgetriebene technische Fertigkeit und eine effektive Produktionsweise. Blattlesen ist dabei wichtig, so dass die Probezeit auf ein Minimum gekürzt werden kann. Viele Komponisten ziehen die Konsequenz, auch für Neue Musik eine hauptsächlich traditionelle Schrift zu verwenden, um sich den Zugang zum Publikum nicht zu versperren. Für Keller waren darüber hinaus auch Texte und Botschaften mit politischen Inhalten wichtig. (18)
In der Pädagogik geht es weniger um effektive Kulturproduktion als darum, sich in Inhalte zu vertiefen und sie kennenzulernen. Das können wir eine andere Methode nennen und sie als «workshopähnlich» bezeichnen. Die Musiker entdecken oder entwickeln gar allmählich das Feld und bestimmen das Resultat mit. In 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (1995) (19) und im gleichnamigen 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (2008) treten Strukturen auf, die den frühen Kompositionen ähnlich, jedoch einfacher sind. Es gibt auch herkömmliche, lineare und einfache Partituren. Es folgt nun indessen ein Beispiel, Zündschnur aus der späteren Sammlung, das heterofone und formelhafte Strukturen exemplifiziert. Diesmal ist die Notation ausschliesslich verbal:
Die workshopähnliche Methode ist unter Ensembles verbreitet, welche die Freiheit haben, sich ihre eigene Arbeit selbst zurechtzulegen. Die oben analysierten frühen Stücken entstanden denn auch im Umfeld der von Keller gegründeten Gruppe für Musik. Damals arbeitete er auch improvisatorisch mit Gerhard Stäbler und Wah Schulz.
Von 2003 stammen einige Improvisationskonzepte, geschrieben für eine Gruppe mit Stefan Wyler (trp), Alfred Zimmerlin (vcl) und Dani Schaffner (perc). Keller selbst spielte auf Klavier und Synthesizer. Elektronische Klangumwandlung konnte bei allen eingesetzt werden. Die Kompositionen gehören in eine «Grauzone». Sie sind nur für die betreffenden Musiker formuliert und haben die vollständigen Erklärungen nicht, die für die oben analysierten Stücke charakteristisch waren. Sie können aber Beispiele dafür sein, wie man unter sich Kompositionen schnell realisieren kann, mit Stichwörtern und wenig Aufwand. Ausser Spielanweisungen sind in diesen Konzepten eine Menge technische Angaben zur Einstellung der Apparatur. Diese zu verallgemeinern wäre sicher eine besondere Aufgabe gewesen, eine andere, velleicht etwas weniger schwierige wäre es, von den spezifischen Instrumenten zu abstrahieren. Könnte z. B. «Cello» durch einen anderen Streicher ersetzt werden oder durch irgendein anderes Instrument? In ihrem spezifischen Kontext müssen solche Fragen indessen gar nicht beantwortet werden.
Aus Im Metall hier eine Spielregel, die auf der Interaktion der Musiker beruht und Erfahrungen der Neunzigerjahre mit «dirigierter Improvisation» integriert:
Aus Ohn End ein Partiturausschnitt – für Aussenseiter würden die Stichwörter wohl ziemlich abstrakt erscheinen. Denkbar auch, dass «free» ein gewisses Einverständnis unter den Musikern einschliesst, besonders wenn die Stücke zuvor erprobt waren. Zumindest ist zu vermuten, dass sie mit den Spielweisen der anderen etwas vertraut waren.
Improvisation und experimentelle Aufführungspraxis tauchen auf in einem Werk mit politisch orientierten Texten aus letzer Zeit, nämlich Mobile für 1–5 Instrumente ad libitum von 2013.
Die Elemente in den Kästen können frei kombiniert werden. Doch das «Floskel-Feld» soll zum Beginn stehen und mindestens zweimal im Laufe des Stückes aufgegriffen werden. Texte können verschiedenartig vorgeführt werden gemäss Anweisungen. Zusammen mit den instrumentalen Elementen haben wir also hier wahrhaftig eine Collage: Sätze können sich chaotisch übereinander lagern. In ihnen geht es um ernste Probleme, die keineswegs zueinander in Beziehung stehen, sondern schroff einander gegenüberstellt werden. Ebenso schroff steht das hochdifferenzierte Spielen den prominenten «Floskeln» gegenüber. Das Stück kommt aber dem Blattlesen entgegen dadurch, dass Tonhöhen und Rhythmen detailliert auskomponiert sind. Dabei bedeutet [G], dass der Ton geräuschhaft sein kann. Wiederum diplomatisch für die klassisch ausgebildeten Musiker kann dies aber ausgelassen werden.
Kellers offene Kompositionen seit 1970/71 bauen auf Entdeckungen, die eingehend in frühen Stücken untersucht wurden: erweitertes Material, anschauliche Notation, Interaktion als wesentliche Dimension, schaffende Zusammenarbeit. Sichtbar werden aber auch originelle pädagogische Arbeiten sowie eine informelle kompositorische Arbeitsweise. Und ein Beispiel für einen Brückenschlag zwischen den sonst getrennten Arbeitsmethoden von Blattlesen oder Workshop.
Carl Bergstrøm-Nielsen ist ein dänischer Komponist, Improvisator und Musikforscher.
Website: www.intuitivemusic.dk
Anmerkungen
1
Zu Konsequenzen ausserhalb des Konzertlebens sei hier nur kurz angedeutet, dass die Musikpädagogik neu gestaltet wurde und dass die neuere Musiktherapie als Fachdisziplin ins Leben gerufen wurde.
2
Siehe Bergstrøm-Nielsen (2002ff), Sonderkategorien über Wolff und Zorn G2.5 und G2.3 (sowohl alte als neue Abteilung), auch Gronemeyer et al (1998). Vitkova (2005) attestiert, dass Wolff nicht nur in den Sechzigerjahren so komponierte, sondern auch später, z. B.in For John (2007).
3
Polaschegg (2007) und (2013) enthalten ausführliche Signalemente davon.
4
Reimann (2013)
5
Sauer (2009)
6
Zündsatz dieser Explosion schien der Artikel Meyer (2010) zu sein. Die Diskussion setzte sich fort in Dissonance (2010) und Kunkel (2010) mit mehr als 35 Teilnehmern. Nachher wurde Nanz (2011) veröffentlicht. – Schon Meyer (2007) berichtete vorher von regen Diskussionen über Improvisationsfragen.
7
In Luzern kann man einen Bachelor of Arts in Music mit Schwerpunkt Improvisation erwerben. Mäder et al (2013) enthält eine Dokumentation und didaktisch-inhaltliche Reflexionen. Jeremy Cox, Leiter der Association Européenne des Conservatoires schätzte ein, dass 90% der zirka 200 Mitglieder Improvisationsunterricht eingeführt haben. Siehe Cox (2012). Andere wichtige Orte, wo freie Improvisation gelehrt wird, sind beispielsweise Gent, Belgien; Den Haag, Holland; Oslo, Norwegen.
8
Siehe die Diskussion bei Mäder et al (2013) p.38f.
9
Amzoll (2015)
10
Aleatorisch, nach latein alea=Würfel, bedeutet zufallsbezogen, doch innerhalb eines definierten Rahmens.
11
Siehe Müller (1997)
12
Eine Diskussion dieser Begriffe findet sich am Ende des Artikels Bergstrøm-Nielsen (2002).
13
Bosseur (1997), Übersetzung des Verfassers
14
Als Komponist kann ich darüber hinaus persönlich bestätigen, dass es ein grosses Vergnügen sein kann, ganz unterschiedliche Versionen desselben Werkes zu hören zu bekommen. Die Interpretationsweisen können sich sogar über die Jahrzehnte wandeln.
15
Müller (1994) vertritt die These, dass für die Analyse indeterminierter Musik (das umfasst nach seiner Auffassung auch Stockhausens Prozession) die alleinige Betrachtung von Methode seitens des Komponisten und von Rezeption nicht ausreicht. Wenn der Komponist die gestalterische Arbeit mit einem Interpreten teilt, dann muss die Aufführungspraxis als solche untersucht werden. Kopp (2010) führt einen ähnlichen Gedankengang aus.
16
Ochs (2000) deutet auf die Vorteile der kreativen Zusammenarbeit hin: «… the decision to use (structured) improvisation … to create the possibility of even more … than the composer imagined possible … Or, at the very least, to allow for the possibility of different or fresh realizations … with each performance» (p.326).
17
Globokar (1970)
18
Siehe Amzoll (2015) für eine allgemeinere Orientierung über Kellers Schaffen
19
Eine Auswahl davon ist im Nimczik/Rüdiger (1997) publiziert.
Literaturhinweise
Amzoll, Stefan (2015):
Farbenfahrten. Der Schweizer Komponist und Improvisator Max E. Keller. MusikTexte 147, November.
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Offene Komposition und andere Künste. ringgespräch über gruppenimprovisation, Juni. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bergstrøm-Nielsen, Carl (2002ff):
Experimental improvisation practise and notation.
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Bosseur, Jean-Yves (1997):
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Cox, Jeremy (2012):
Mündliche Kommunikation anlässlich des Vortrags QUO IMUS?: a «premeditated improvisation» on ideas stimulated by the Symposium and their implications for European music academies. Symposium Quo vadis, Teufelsgeiger?, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 28.Januar 2012.
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Repliken auf Thomas Meyers Artikel „Ist die freie Improvisation am Ende? (dissonance 111) Online: http://www.dissonance.ch/de/rubriken/6/95
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Christian Wolff. Cues. Writings and Conversations / Hinweise. Schriften und Gespräche, in: Edition MusikTexte 005.
Herndler, Christoph (2011):
Wegmarken beim notieren unvorhersehbarer Ereignisse, in: «31» – Das Magazin des Instituts für Theorie, Nr. 16/17, S. 126 ff. ISSN 1660-2609 (Schweiz).
Jahn, Hans-Peter (2006):
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Keller, Max E (1973):
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Vom Handlungssinn der Schrift. Die Erfahrung des Musikers als Gegenstand von Komposition. MusikTexte 125, Mai, S. 32-43.
Kunkel, Michael (ed.) et al (2010):
Diskussion…. Dissonance, Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation 111, Dezember, S. 64-77. Online: http://www.dissonance.ch/de/hauptartikel/82
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L’Improvisation Musicale. (Biarritz, Editions Jean-Claude Lattès 1981). Teil einer Serie: Musiques et Musiciens. New edition: Arles 1996
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Nimczik, Ortwin/Rüdiger, Wolfgang (1997):
Einstimmige vielstimmigkeit. Drei Improvisationsmodelle von Max E. Keller (1995), Musik und Bildung 1, Januar/Februar.
Nonnenmann, Rainer /(2010):
Wider den Utopieverlust. Mathias Spahlingers «doppelt bejaht» beschreitet neue Bahnen. MusikTexte 124, Februar.
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Polaschegg, Nina (2007):
Verflechtungen. Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Komposition und Improvisation, MusikTexte 114, August.
Polaschegg, Nina (2013):
Gegenseitiges Befruchten und Durchdringen. Zum Spannungsfeld von Komposition und Improvisation. MusikTexte 139, November 2013.
Reimann, Christoph (2013):
Kollektives Individuum. Das Berliner Splitter Orchester. MusikTexte, August, 29-35.
Sauer, Theresa (2009):
Notations 21, New York (Mark Batty Publishers). Siehe auch dazu: https://notations21.wordpress.com/theresa-sauer
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Link zu einer Aufführung von Minima am 13. November 2017 im Rahmen des Copenhagen Openform Festivals