Sommerfrische mit George Sand
Wer es sich leisten konnte, verliess Paris, wenn es heiss und stickig wurde. Die berühmteste französische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts versammelte auf ihrem Landsitz in Nohant die Crème de la Crème der damaligen Kulturszene.
Die Landschaft ist topfeben in der Umgebung des Weilers Nohant-Vic in der Provinz Berry im Herzen Frankreichs. Dort steht das stolze Herrenhaus der Familie Dupin. Marie-Aurore de Saxe, Grossmutter von George Sand alias Aurore Dudevant, hatte es einst samt dazugehörigem Landwirtschaftsbetrieb, Stallungen, kleiner Kirche und fünf Hektar grossem Park gekauft.1
Hinter dem Haus liegen ein kleines Wäldchen mit verschlungenen Wegen und verwunschenem Weiher, ein grosszügiger Garten mit Beeten sowie ein Familienfriedhöfchen. Hier verbrachte George Sand die meiste Zeit ihres Lebens. Und hier gingen einige der bedeutendsten Kulturschaffenden jener Zeit ein und aus. Fern vom Trubel und vom Dreck der Hauptstadt arbeiteten sie in aller Ruhe und in inspirierender Gesellschaft an wegweisenden Theaterstücken, Romanen, Kompositionen und Gemälden.
Anfang 1838 lässt sich etwa der Dichter Honoré de Balzac von dieser Atmosphäre inspirieren. Das ländliche Leben, das die umtriebige George Sand vorzieht, beflügelt die Kreativität. In Nohant kann es auf Dauer aber auch langweilig werden, Musik muss also her. Die Hausherrin liebt Klaviermusik. Sie spielt das Instrument ja selbst, aber die Profis im Haus fehlen – bevorzugt Stars wie Franz Liszt. «Quand Franz joue du piano, je suis soulagé [sic]. Toutes mes peines se poétisent, tous mes instincts s’exaltent. Il fait surtout vibrer la corde généreuse» (Wenn Franz Klavier spielt, bin ich erleichtert. Alle meine Qualen verklären sich, alle meine Instinkte geraten in Begeisterung. Er bringt vor allem die grosszügige Saite zum Schwingen.), schreibt sie am 3. Juni 1837 in ihr Journal intime, als Liszt und seine Geliebte Marie d’Agoult monatelang in Nohant zu Besuch sind.
Der polnische Komponist Frédéric Chopin und dessen Intimfreund Wojciech Grzymała – sie kennen Sand längst aus den Pariser Salons – folgen ihren drängenden Einladungen jedoch noch nicht. Indessen wird Sand von je einem vergangenen, aktuellen und künftigen Liebhaber besucht; auch sie sind künstlerisch tätig: Charles Didier, Schweizer Journalist und Literat, Bocage (Pierre-Martinien Tousez), französischer Schauspieler, und Félicien Mallefille, auf Mauritius geborener französischer Schriftsteller.2
Chopinsche Musikfetzen über dem Garten
Erst zwei Jahre später kommt auch Chopin in den Genuss der Sommerfrische in Nohant. Nachdem ihn die geschiedene und seit Jahren alleinerziehende Sand zur berühmt gewordenen, verregneten Winterreise nach Mallorca eingeladen und sich sein Gesundheitszustand lebensgefährlich verschlechtert hat, erreicht das Grüppchen (Sands Kinder und Zofe sind dabei) im Juni 1839 den Landsitz. Chopin langweilt sich bald. Er vermisst sein ausschweifendes Leben in Paris, seine Freunde, das Streifen durch die Salons bis spät in die Nacht. Inständig bittet er Grzymała, ihn zu besuchen. Dessen Kommen freut auch Sand. Längst duzt sie diesen Mitgründer der polnischen Pariser Literatengesellschaft und nennt ihn «mon époux» – während sie und Chopin stets mit dem förmlichen «Sie» korrespondieren.
Für ihren «malade» bestellt sie einen Pleyel-Flügel, damit er ungestört arbeiten und spielen kann. Die zur Schallisolierung wattierten Türen zu seinem Arbeitszimmer sind heute noch erhalten. Denn in Paris ist Chopins Hauptbeschäftigung das Unterrichten – mój młyn, seine «Mühle», wie er es etwas zynisch nennt. In Nohant kann Chopin nun während sieben Sommern (1839, 1841-1846) monatelang in Ruhe komponieren; noch dazu kostengünstig, er selbst könnte sich eine solch feudale und ausgiebige Sommerfrische inklusive gutem Essen kaum leisten.
Perfektionistisch feilt er an seinen neuen Werken. «Il s’enfermait dans sa chambre des journées entières, pleurant, marchant, brisant ses plumes, répétant et changeant cent fois une mesure […] avec une persévérance minutieuse et désespérée. Il passait six semaines sur une page pour en revenir à l’écrire telle qu’il l’avait tracée du premier jet.» (Er schloss sich tagelang in seinem Zimmer ein, weinte, ging umher, wiederholte und änderte hundert Mal einen Takt […] mit einer peinlich genauen, verzweifelten Hartnäckigkeit. Er arbeitete sechs Wochen an einer Seite, um schliesslich darauf zurückzukommen, wie er sie im ersten Wurf niedergeschrieben hatte.)3
Sands «hôte» (so betitelt sie ihn in Histoire de ma vie) komponiert tagsüber, sie schreibt in der Nacht und schläft den halben Tag. Diese «compagnonnage»4 kommt also gut aneinander vorbei, unternimmt aber trotzdem gemeinsame Spaziergänge, wobei er auf einem Esel reitet.
Mit seinen geliebten Freunden in Paris bleibt Chopin brieflich verbunden. Seinem zuverlässigen Intimus Julian Fontana etwa schickt er verlegerische Aufträge und mehr: «Écris-moi continuellement, trois fois par jour si tu le veux […] Que mon chapeau soit prêt dans quelques jours. Commande immédiatement mes pantalons, ma petite Juliette [sic].» (Schreib mir immerzu, dreimal täglich, wenn du willst […] Ob mein Hut in einigen Tagen bereit ist. Bestell sofort meine Hose, meine kleine Juliette [sic]. 3.10.1839)
Chopins Familie in Warschau erhält ebenfalls Post aus Nohant. Und auch seine alte Liebe in Polen, der musikalische Landwirt Tytus: «Woyciechowski vient de me conseiller d’écrire un Oratorio.» (Woyciechowski hat mit empfohlen, ein Oratorium zu schreiben. 8.8.1839) Ein Oratorium bringt Chopin nie zu Papier, das macht er seinem Tytus postwendend klar. In diesen Sommern vollendet er jedoch ein Klavier-Meisterwerk nach dem anderen: das schaurige Finale der b-Moll-Sonate, die h-Moll-Sonate, die Ballade in f-Moll, die «heroische» As-Dur-Polonaise, das luftig-leichte E-Dur-Scherzo mit seinem sehnsuchtsvollen Mittelteil und viele mehr.
Während Chopin komponiert, Sands Tochter Solange unterrichtet und das ganze Haus auch des Abends mit seinem Spiel erfüllt, lädt die «Hausherrin» (wie er sie nennt) ständig weitere Kulturschaffende ihrer grosser Künstlerfamilie ins Berry ein. Etwa den Maler Eugène Delacroix. Er ist auch mit Chopin sehr eng liiert und schreibt: «Il arrive de la fenêtre ouverte sur le jardin des bouffées de la musique de Chopin qui travaille de son côté: cela se mêle au chant du rossignol et à l’odeur des roses.» (Aus dem zum Garten hin offenen Fenster wehen Musikfetzen von Chopin, der ebenfalls am Arbeiten ist: Sie mischen sich mit dem Gesang der Nachtigall und dem Duft der Rosen. 7.6.1842)
Dieser ewige Junggeselle unterrichtet Maurice, den begabten Sohn Sands. Auch für ihn wird ein Atelier eingerichtet, er darf im schönen Grossmutter-Zimmer im Parterre schlafen und verbringt viel zweisame Zeit mit Chopin. «Jʼai des tête-à-tête à perte de vue avec Chopin, que jʼaime beaucoup, et qui est un homme dʼune distinction rare; cʼest le plus vrai artiste que jʼaie rencontré.» (Ich verbringe unendlich viel Zeit zu zweit mit Chopin, den ich sehr mag. Er ist ein Mensch von seltener Vornehmheit und der wahrhaftigste Künstler, dem ich je begegnet bin. 22.6.1842)
Nach der Klangkulisse kommt das Theater
Die grosszügige, gerne Männerkleider tragende und Zigarren rauchende George Sand ist für damalige Verhältnisse, was ihre Themen anbetrifft, eine avantgardistische Autorin. Geschlechtsidentität kann fluide sein (Gabriel, Grzymała gewidmet), und ihre Heldinnen sind selbstbestimmt (Lélia). Privat fühlt sich die Romancière von Frauen wie von Männern angezogen, sie ist bisexuell.5
Die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot ist Dauergast in Nohant, teils samt Familie. Sand hegt für sie mütterliche Gefühle, wie auch für Chopin, entgegen einer verbreiteten Meinung und wie sie selbst immer betont: «mon fils». Leidenschaft spielt in dieser Zweckgemeinschaft all die Jahre keine Rolle.6 «Ma fille» Viardot musiziert und improvisiert also mit ihm – musikalische Sternstunden im Berry.
Ausgesuchte Freunde Chopins kommen zu Besuch, wie der Dichter Stefan Witwicki und ein zweites Mal Grzymała. Bisweilen werden wegen all der Gäste, Bediensteten und Hausangestellten die Zimmer knapp. «Le domestique de Chopin […] est un polonais grave et stupide […] On pourra le mettre à côté de la sellerie.» (Chopins Diener […], ein Pole, ist ernst und dumm. Wir könnten ihn neben der Sattelkammer unterbringen. 8.4.1843)
Bereits Ende 1846 beschliesst George Sand, nun auch während des Winters in Nohant zu bleiben, und kündigt – ohne Chopin zu informieren – ihre Wohnung in Paris. Nach einer Meinungsverschiedenheit trennen sich ihre und Chopins Wege endgültig, und nun wird es plötzlich sehr still im prächtigen Landhaus. Sand versucht zwar, selbst Musik zu machen, aber das ist kein Ersatz für die frühere Klangkulisse. «Je suis forcée de me faire de la musique à moi-même, ce qui n’est pas gai du tout […] cela me donne à moi, les seules jouissances musicales que je puisse avoir ici». (Ich bin gezwungen, für mich selbst zu musizieren, was überhaupt nicht lustig ist […] das gibt mir die einzigen musikalischen Freuden, die ich hier haben kann. 5.3.1849)
Der Graveur und Autor Alexandre Manceau, Sands leidenschaftliche Liebe, der ab 1849 mit ihr fünfzehn Jahre in Nohant lebt,7 bringt leider keine Musik ins Haus. Dafür die darstellende Kunst: Er führt Regie auf der neuen, hauseigenen Kleinbühne, richtet zusätzlich ein Marionettentheater für Maurice ein, und die Vorstellungen werden zu Events für die «Berrichons» aus der Umgebung.
Moritz Weber ist Pianist und Musikjournalist, seit 2012 bei SRF Kultur. Seine Recherche, «Chopins Männer», erregte 2020 weltweites Medienecho.
Anmerkungen
1 Anne Muratori-Philip, La Maison de George Sand à Nohant, Paris: Éditions du patrimoine, Centre des monuments nationaux, 2012, S. 4
2 George Sand, Correspondance (Éd. Lubin), Band IV, Paris: Classiques Garnier 1968 (Reprint 2013), S. 5
3 George Sand, Histoire de ma vie, Tome XIII, Chapitre 7, Paris: [Verlag nicht ermittelbar], 1855, S. 130f.
4 Martine Reid, George Sand, Paris: Gallimard, 2013, S. 158
5 Martine Reid, George Sand, Paris: Gallimard, 2013, S. 101f.
6 Armin Strohmeyer, George Sand – Eine Biografie, Leipzig: Reclam, 2004, S. 105
7 Armin Strohmeyer, George Sand – Eine Biografie, Leipzig: Reclam, 2004, S. 165, 197