Fritz Muggler: Chronist der Nachkriegsmoderne
Der Kunstkritiker und Organist Fritz Muggler ist laut Todesanzeigen in der NZZ am 25. September 2023 im Alter von 93 Jahren gestorben.
1930 in Zürich geboren studierte Fritz Muggler Klavier, Schulmusik, Orgel, später Musikwissenschaft an der Universität Zürich bei Paul Hindemith und Kurt von Fischer, dazu Kunstwissenschaft, Journalismus, Musiktheorie und Komposition. Er war 35 Jahre lang Organist in Schlieren, schrieb für verschiedene Zeitungen, darunter bis zu seiner Pensionierung für die NZZ. An der Schola Cantorum Basiliensis studierte er bei Hans Martin Linde Blockflöte. Er gründete das NewConsortZürich, ein Ensemble für frühe Musik in Kombination mit zeitgenössischer. Viele Jahre besuchte er die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Zudem präsidierte er die Schweizer Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM).
Im Januar 2008 erschien in der SMZ ein Musikprotokoll mit Fritz Muggler von Johannes Anders. Darin finden sich etwas ausführlichere Angaben zu seiner Biografie (Download PDF).
Fritz Muggler hat in der SMZ jahrelang über die Donaueschinger Musiktage berichtet. Einige PDFs zum Download:
Chronist der Nachkriegsmoderne
Nachruf auf Fritz Muggler von Max Nyffeler
(leicht gekürzt veröffentlicht in der Schweizer Musikzeitung 12/203 vom 29. November 2023, S. 31 f.)
Umfassend gebildete Musikkritiker, die sich in Alter und Neuer Musik gleichermassen auskennen und sich zudem noch als praktische Musiker betätigen, sind heute eher selten anzutreffen. Zu ihnen gehörte Fritz Muggler, der am 25. September im hohen Alter von 93 Jahren in Zürich gestorben ist. Die Öffentlichkeit nahm davon kaum Notiz. Er hatte sich schon vor längerer Zeit vom Kritikergeschäft zurückgezogen und tauchte höchstens noch bei Konzerten auf, die ihn persönlich interessierten. Und das waren, was die Gegenwartsmusik angeht, immer weniger; die jüngsten Entwicklungen liess er an sich vorbeiziehen.
Zeitgenosse der Nachkriegsavantgarde
Mit Jahrgang 1930 gehörte Fritz Muggler zur selben Alterskohorte wie die Protagonisten der Nachkriegsavantgarde: Ligeti, Stockhausen, Nono, Boulez, Kagel, Schnebel … An ihren Werken schulte er seine Kriterien. Gründliche musikalische Kenntnisse hatte er sich in seinem Klavier- und Orgelstudium am Zürcher Konservatorium erworben und in der Musikwissenschaft bei Paul Hindemith, der an der Universität Zürich ab 1951 unterrichtete. Doch als junger, neugieriger Musiker besuchte er schon früh auch die Darmstädter Ferienkurse. Damit zählte er zu den wenigen Kennern des damals aufkommenden Serialismus. Einen Eindruck von seiner Kompetenz erhielt ich Anfang der Sechzigerjahre, als ich als angehender Musikwissenschaftler bei Kurt von Fischer in Zürich an einem Seminar über Musik im 20. Jahrhundert – damals ein absolutes Novum an einer Universität – teilnahm. Zu diesem Seminar lud von Fischer Muggler ein, als Gast über Stockhausen zu referieren – er selbst sei in dieser neuen Materie eben nicht so sattelfest. Mugglers Auftritt war für alle ein Gewinn.
Seine berufliche Tätigkeit erstreckte sich über mehr als ein halbes Jahrhundert. Nach journalistischen Anfängen bei den Tageszeitungen Volksrecht und Die Tat wurde er in der Neuen Zürcher Zeitung für Jahrzehnte zu einer gewichtigen Stimme für alles Zeitgenössische, auch schrieb er viel für die Schweizerische Musikzeitung, resp. später für die Schweizer Musikzeitung. Er war stets dabei, wenn es irgendwo Neues zu hören gab, ob im In- oder Ausland. Mit seinen ein Meter neunzig war er eine unübersehbare Erscheinung, und als Gesprächspartner war er von ausnehmender Freundlichkeit – ein aufmerksamer Zuhörer, der tolerant gegenüber anderen Meinungen war und sein eigenes Ich diskret zurücknahm. Als hellwacher Musikkritiker notierte er seine Eindrücke und Überlegungen im Moment des Hörens – in Stenogrammschrift, damit er schreibend Schritt halten konnte mit der Musik. Seine Notizbücher sind ein riesiger Fundus an hörend erworbenem Wissen und müssen Regale gefüllt haben.
Fakten statt Meinungen
Aufgeregte Dispute um Richtig und Falsch, einst eine Spezialität der Avantgardezirkel, waren ebenso wenig seine Sache wie Kritikerhäme oder ihr Gegenteil, der heute verbreitete Gefälligkeits- und Freunderljournalismus. Auch auf gesellschaftspolitische Debatten, nach 1968 ein Dauerbrenner in Feuilletons und Fachkreisen, und ihr Nebenprodukt, das bücherfüllende Theoretisieren, liess er sich nicht ein. Er hielt sich lieber an die erkennbaren Fakten und klingenden Resultate und war bestrebt, sie den Leserinnen und Lesern in einfacher und klarer Sprache mitzuteilen. Seine Rolle war die des rational argumentierenden, allem Neuen gegenüber aufgeschlossenen Beobachters, der in sachlich-bescheidenem Tonfall seine Eindrücke und Reflexionen zu Papier brachte – mehr nüchtern urteilender Protokollant des Geschehens als Anwalt künstlerischer Utopien. Mit dieser Haltung und seinem fundierten Wissen wurde Muggler zu einem bedeutenden Chronisten der Nachkriegsmoderne.
Scharfe Stellungnahmen
Bei aller Liberalität scheute er vor scharfen Stellungnahmen nicht zurück. Seine Berichte von den Donaueschinger Musiktagen, die er noch bis 2012 in der Schweizer Musikzeitung veröffentlichte, sind ein Schatzkästlein pointierter Kritikerurteile. Einige Müsterchen (aus den oben zum Download aufgeführten PDFs):
- Die Komposition Apon von Beat Furrer lief sich auch tot in den kleinen Tongruppen, die dann immer dem Sprecher Platz gaben für einen Text, den man dennoch nicht verstehen konnte. Furrer hat versucht, den Klang des Sprechens orchestral nachzubilden, was ihm offensichtlich nicht gelungen ist.
- Über Bernhard Lang, Monadologie IX: Die immerwährenden kleinteiligen Wiederholungen, die geschwätzig wirken und nichts Neues erbringen, gehen in gut 65 Minuten auf die Nerven.
- Ein grundlegendes Problem für viele Komponisten in der nachmodernen Orchestermusik ist aber die Füllung des Klangkörpers, was früher mit Akkordmaterial geschah. Sowohl der Italiener Aureliano Cattaneo (…) als auch der in Paris geborene Franck Bedrossian in Itself bewerkstelligen dies mit einfachen Tongruppen von bemühender Banalität, beim letzteren das Blabla unterbrochen durch linkische Kraftausbrüche. Das ist Musik, die offenbar nicht damit rechnet, dass man aufs Detail hört, die nur fürs Oberflächliche sorgt.
Verriss und Lob im gleichen Atemzug
Doch der Meister des knappen Verrisses wusste im gleichen Atemzug auch zu loben:
- Über Isabel Mundry, Ich und Du: Das Klavier, wenn auch solistisch und äusserst virtuos, ist total integriert in ganz genau ausgehorchte, wunderschön in stetiges Gleichgewicht gebrachte hochkomplexe Klangkombinationen mit darin schwirrend verwobenem Klavierklang. Dagegen langweilt Enno Poppe in Altbau mit Tonspielereien und Unausgeglichenheiten.
- Es war völlig Phantasieloses, sich ewig Wiederholendes, dabei sängerisch höchst Anspruchsvolles, aufgemotzt zum Spass mit gestischen, mimischen und perkussiven Handlungen, was Jennifer Walshe, Clara Maïda und Iris ter Schiphorst verlangten, und nur die Berlinerin Sarah Nemtsov mit ihren Hoqueti war in ihren Satzkünsten und sinnvoll eingesetzten Zusatzeffekten überhaupt ernst zu nehmen.
- Über Globokar, Radiographie d’un roman: Über dreiviertel Stunden ungeheuer dicht und trotz Klang- und Aktionsvielfalt, auch mit theatralischen Elementen, formal völlig überzeugend. Die Begeisterung im Publikum, zumal bei den Jungen, war riesig.
Organist, IGNM-Präsident und Radiokritiker
Neben seinem Beruf als Musikkritiker war Fritz Muggler vielseitig tätig. Er hatte bei Hanns-Martin Linde an der Schola Cantorum Basiliensis Blockflöte studiert und gründete dann das New Consort Zürich, ausserdem war er Organist in einer Kirche in Schlieren. Sein Engagement für die Gegenwartsmusik fand seinen organisatorischen Niederschlag in einer langjährigen Tätigkeit als Präsident der Schweizer Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) und als Leiter des IGNM-Weltmusikfests, das 1991 in Zürich stattfand.
Auch dem Thema Musik in den Medien wandte sich Muggler intensiv zu. In der NZZ veröffentlichte er jahrelang ausführliche Radiokritiken, eine Textsorte, die im Medienzeitalter wichtig wäre, heute aber in den Printmedien leider keinen Platz mehr findet. Und was den Rahmen der Musikkritik entschieden sprengt: Als passionierter Radiohörer nahm er zwischen 1954 und 1991 unzählige Musikprogramme schweizerischer, deutscher und österreichischer Sender auf Tonträger auf und schuf damit ein einzigartiges Archiv von klingenden Dokumenten.
Sicherung der Hinterlassenschaft
Das Material wird seit 2016 im Rahmen eines Forschungsprojekts der Zürcher Hochschule der Künste mit Unterstützung von Memoriav, der Vereinigung zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz, konservatorisch gesichert und inventarisiert; es soll Interessierten künftig auf Anfrage zur Verfügung stehen. Ursprünglich umfasste es insgesamt 946 analoge Tonbänder mit über 18 000 Musikstücken vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Jazz und Ethnomusik. Nach einer gründlichen Sichtung des Nachlasses kommen nun nach Auskunft des Projektleiters Lukas Näf nochmals einige hundert Tonbänder dazu.
Ausserdem soll auch Mugglers umfangreiche schriftliche Hinterlassenschaft ausgewertet und inventarisiert werden. Von der riesigen Menge an Informationen, die der unermüdliche Journalist über die Jahrzehnte im In- und Ausland aufgesogen und in seinen Texten verarbeitet hat, verspricht sich Näf ergiebige Einblicke in die jüngere Schweizer Musikgeschichte. Ein erstes Projekt unter dem Titel «Im Ausland gehört» soll anhand von Mugglers Schriften die Präsenz von Schweizer Komponisten und Interpreten an internationalen Festivals Neuer Musik dokumentieren. Ein langfristiger Nebeneffekt solcher Aktivitäten: Da früher das Sammeln und Bewahren kultureller Daten von den zuständigen Institutionen in der Schweiz sträflich vernachlässigt wurde, bietet die Auswertung privater Quellen heute die Möglichkeit, die Versäumnisse zumindest etwas zu kompensieren und damit das Geschichtsbewusstsein zu stärken.
Fritz Mugglers Archiv wird eine Fundgrube sein für alle, die sich mit der jüngeren Geschichte der Musik und ihrer Interpretation sowie mit dem Wandel des musikalischen Zeitgeschmacks befassen wollen. Die ersten Archivierungsarbeiten an der ZHdK begleitete der rüstige, weit über 80-jährige Autor und Sammler noch höchstpersönlich. Die Resultate seiner lebenslang betriebenen Chronistentätigkeit in Klang und Schrift werden die Erinnerung an ihn wachhalten.
Tonbandsammlung Fritz Muggler an der ZHdK:
https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/tonbandsammlung-fritz-muggler-553597
Forschungsprojekt «Im Ausland gehört»: