Mario Venzago als Komponist
Während des Lockdowns schrieb der Dirigent zwei Opern. Es sind ernste Stücke zu den Fragen: Was kann Musik? Was ist uns Musik?
Dass Dirigentinnen und Dirigenten sich auch komponierend hervortun, ist ein seltenes Phänomen geworden. Dirigenten-Komponisten wie Esa-Pekka Salonen oder Peter Eötvös sind rare Ausnahmen. Ob es daran liegt, dass die Ansprüche an den Dirigentenberuf im 20. Jahrhundert wuchsen und sich der ambitionierte Nachwuchs für eine der beiden Karrieren entscheiden zu müssen glaubte? Dass die meisten von ihnen dennoch im privaten Rahmen und «für die Schublade» komponierten, ist recht wahrscheinlich. Denn einer, «der die Music aufführet und anordnet», wie Johann Gottfried Walther vor bald 300 Jahren in seinem Musikalischen Lexicon formulierte, beschäftigt sich eben in der Praxis höchst intensiv mit der «Ordnung» und Machart von Musik, hat ein enormes Know-how, das fürs Komponieren an sich beste Voraussetzungen bietet. Dennoch scheinen die Betreffenden den Vorwurf des Dilettierens zu fürchten und halten ihre Werke verschämt zurück.
Herbert von Karajan und Sergiu Celibidache beispielsweise äusserten sich kompositorisch einzig auf dem Gebiet der Groteske und Bizarrerie. Celibidaches dreizehnteilige Orchestersuite Der Taschengarten, für Kinder geschrieben, wurde immerhin von ihm selbst aufgeführt und auf Schallplatte veröffentlicht; Der gusseiserne Hirsch von Herbert von Karajan, eine sinfonische Dichtung für Alphorn ad libitum und Orchester nach einer Salzburger Volkssage, kam erst dank der Einwilligung von Karajans Witwe 2009 ins Licht der Öffentlichkeit.
Inspiration aus dem Wort
Der Dirigent Mario Venzago, der am 1. Juli 2023 seinen 75. Geburtstag feiert, hat, ähnlich zurückhaltend wie seine Kollegen, in seiner langen Karriere bisher nur zwei eigene Werke aufgeführt. Seine Kantate Gegenzauber (1977) für Sopran, Posaune, Orchester und verborgene Blaskapelle nach einem Roman von Adolf Muschg wurde in einem Wettbewerb von British American Tobacco ausgezeichnet. Sein Violinkonzert, ein Lebenswerk, an dem er in seinen frühen Jahren als Dirigent zu arbeiten begonnen hatte, kam 2021 im Abschiedskonzert als Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters zur Uraufführung (https://www.musikzeitung.ch/berichte/2021/07/mario-venzagos-violinkonzert-als-bio-piece). Es beeindruckt durch Tiefgründigkeit, Materialfülle und unmittelbare Intensität; der souveräne Umgang mit dem Instrumentarium spiegelt die lebenslange praktische Erfahrung des Dirigenten. Dass Venzago ein ausgeprägtes Interesse und Talent zur Gestaltung von Musik eigen ist, zeigen auch seine Bearbeitungen – man denke z. B. an seine Ergänzung von Schuberts «unvollendeter» h-Moll-Sinfonie.
Zum Zeitpunkt der Uraufführung des Violinkonzerts hatte die Corona-Pandemie in Venzagos Arbeitsleben einen Einschnitt verursacht, der ihn ganz neu und grundlegend zum Komponieren führte. Nicht etwa zur Sinfonik, die doch im Beruf seit langer Zeit sein Hauptanliegen ist, sondern zur Oper. Die Inspiration ging von den Texten und Inhalten aus. In nur zwei Jahren komponierte er zwei Opern nach sehr unterschiedlichen Vorlagen und ging kompromisslos mit originellen und provokanten Ideen ans Werk. Wie er selbst öfters sagte, wolle die Musik, wenn sie nicht aufgeführt werden könne, doch mit Macht geäussert werden.
Hotelzimmer in Tonarten
Die erste Oper, ein Einakter mit dem Titel Hotel Windermer, basiert auf einer Kurzgeschichte des Krimiklassiker-Autors Raymond Chandler (I’ll be waiting). Der Handlungsort inspirierte den Schönberg-Adepten Venzago, den zwölf Zimmern des Hotels die zwölf Tonarten zuzuordnen, in deren Farben sich das Personal der Kriminalgeschichte ergeht: der Hoteldetektiv, die schöne Unbekannte, die auf ihren Lover wartet, der Lover auf der Flucht, der Concierge, einige Gangster, darunter überraschend der Bruder des Hoteldetektivs.
Um die Zimmer weiter zu bevölkern, führt Venzago Kartenspieler und eine gealterte Geigendiva ein, die als einziges Ensemblemitglied nicht singt, sondern tatsächlich Geige spielt. Dazu treten zwei sehr virtuose Partien für Bühnenklaviere, so dass von vornherein klar ist, wer in dieser Geschichte die eigentliche Hauptrolle hat: die Musik. An skurrilen und komischen Einfällen mangelt es ihm nicht: So kreiert er eine klangmalerische Roulette-Szene, die den Weg der rollenden, hüpfenden Kugel im Orchester nachzeichnet. Für das Liebesduett verwendet er Verse aus dem Hohelied Salomos und gestaltet sie als echten, perkussionsbegleiteten Rap. Das «Warten» aus dem Originaltitel der Vorlage wird gleich zu Beginn der Oper mit dem Warten der Penelope assoziiert, Monteverdi zitierend. Der Schluss zieht nach einer zehnstimmigen Trauermusik in Vokalisen ein überraschendes, halboffenes Fazit («ich warte nie mehr»).
Stimmintervalle und fernöstliche Klangidiome
In der Romanvorlage der zweiten Oper, The Piano Tuner bzw. Der Klavierstimmer ihrer Majestät von Daniel Mason, fand Venzago ganz andere Qualitäten und musikalische Aspekte, die ihn interessierten. Das Instrument, mit dem er selbst zur Musik fand, steht hier im Mittelpunkt, doch nicht in Verbindung mit Virtuosentum, sondern mit der Figur eines «Technikers»: Im späten 19. Jahrhundert reist dieser Klavierstimmer nach Fernost, um im Dschungel den Erard-Flügel eines wunderlichen Militärarztes zu reparieren. Hier wird die Utopie, mit Musik den Frieden zu bringen, verhandelt und muss grausam scheitern. Das exotische Kolorit der Schiffsreise und der Örtlichkeiten in Myanmar führen Venzago, der die epische Breite der Vorlage geschickt in fünf Szenen und zwei Epiloge fasst, zu freitonalen, teils zwölftönigen Strukturen. «Birmanische» Klangidiome sind mit sechsteltönigen Konstruktionen angedeutet.
Venzago greift die verfemte Musik der 1930er-Jahre auf sowie Elemente aus Pop und Musical, geht dabei aber dezidiert nicht collagenhaft, sondern organisch verarbeitend vor. Musikalische Burleske prägt die Welt der britischen Militärs, etwa in einem halb-sprechend deklamierten mehrstimmigen Soldatenlied. Zart erotische Momente entstehen in der Begegnung des Klavierstimmers mit der birmanischen Assistentin des Arztes, die gleichsam zur Führerin in unbekannte Klangwelten wird. Als Höhepunkt der Oper gestaltet Venzago das Stimmen des Flügels zu einer «Stimm(en)-Sinfonie», die das durchaus realistische Anschlagen der Intervalle mehr und mehr mit einer polyfonen Vogelstimmen-Welt des Orchesters umwebt.
Fern vom Mainstream
Aussergewöhnlich scheinen diese beiden Würfe, und kühn sind sie allemal, auch hinsichtlich der Aufführungsfrage. Denn welcher Intendant wird es wagen, sich so weitab vom Mainstream zu engagieren? In die Kategorien der Groteske und Bizarrerie fallen Venzagos Opern keineswegs. Sie sind trotz komischer Aspekte und exzentrischer Momente ernste Stücke und verhandeln die grossen Fragen: Was kann Musik? Was ist uns Musik? Da Venzagos Ideenreichtum zudem gute Unterhaltung garantiert, würde man es den beiden Opern sehr wünschen, dass sie eines Tages gespielt werden. Venzago selbst komponiert weiter, wenn er nicht gerade auf Konzertreisen ist: Mittlerweile arbeitet er an einem Klavierkonzert.
Dorothea Krimm
… ist Musikwissenschaftlerin und leitet die Bibliothek der Bühnen Bern.