Walter Furrer und Antony Morf
Der Klarinettist Antony Morf (1944-2016) und der Komponist Walter Furrer (1902-1978) dürften sich anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins 1974 kennengelernt haben.
Auf das Deckblatt des Manuskripts Nahtegal, guot vogellin – es handelt sich um eine kleine Komposition für Kammerchor sowie vier Instrumente (Viola, Gitarre, Blockflöte, Tamburin) nach einem mittelhochdeutschen Text des Berner Minnesängers Heinrich von Stretelingen, die am 24. Mai 1975 von Studio Radio Bern ausgestrahlt wurde – hat Walter Furrer die handschriftliche Widmung «Für Herrn Morf» gesetzt.
Darauf aufmerksam gemacht hat mich die Lautenistin Irina Döring. Sie war Teilnehmerin des vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern im Wintersemester 2016 veranstalteten Seminars Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren (Leitung: Frau Prof. Dr. Cristina Urchueguía; Schwerpunkte: Musik nach 1600 / Editionsphilologie) und befasste sich mit dem genannten Werk.
Allein schon wegen der Seltenheit des Namens war es nicht allzu schwer, herauszufinden, wer sich dahinter verbarg. Nach einer Anfrage bei dem Berner Musikerehepaar Adrian und Helene Wepfer stand fest, dass es sich um Antony Morf handeln musste, der einige Jahre Erster Klarinettist des Berner Symphonieorchesters war. Da er in dieser Funktion später u. a. auch in Basel wirkte, setzte ich die Recherche beim Sinfonieorchester Basel fort und gelangte über einige Umwege schliesslich zu Herrn Cardinaux, einem Schüler Antony Morfs, und über diesen schliesslich zu Frau Dorothee Morf, der Witwe des Künstlers.
Während eines Gesprächs, das ich am 1. Dezember 2016 in Basel mit ihr führte, erhielt ich Einblick in die Biografie von Antony Morf und erfuhr auch, dass er und Walter Furrer einander begegnet sind. Allerdings muss ich schon jetzt einschränkend festhalten, dass diese Informationen ziemlich summarisch sind und somit keine charakteristischen Einzelheiten aufweisen. Das hängt damit zusammen, dass Antony Morf, obwohl ein gefragter, weit herum bekannter Orchester- und Solomusiker, von einer prononcierten Bescheidenheit war und daher bewusst nichts für die «Nachwelt» aufbewahrte. Hinzu kommt, dass auch im Nachlass Walter Furrers, von der erwähnten Widmung abgesehen, bisher keine schriftlichen Vermerke zu Antony Morf aufgetaucht sind.
Antony Morf wurde am 16. Juni 1944 in Genf geboren, besuchte dort das Gymnasium und hatte schon früh Klarinettenunterricht: So war er von 1958 bis 1963 am Genfer Konservatorium Schüler des holländischen Klarinettisten Léon Hoogstoël. Dort erwarb er das Lehrdiplom und gewann den Ersten Virtuosenpreis, anschliessend war er eine Zeitlang Privatschüler von Ferenc Hernad (Lugano). In der Folge erspielte er sich bei internationalen Musikwettbewerben mehrere Preise, so 1967 den Dritten Preis in Genf und 1970 den Ersten Preis in Budapest.
Von 1965 bis 1970 war er Mitglied des Quintette à vent romand. Er wirkte als Erster Klarinettist in mehreren Schweizer Sinfonieorchestern mit, von 1968 bis 1972 in Bern, anschliessend in Zürich sowie in Genf. 1978 wechselte er zum Sinfonieorchester Basel, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 tätig war. In der Saison 1972/73 wurde er als Solist der Abonnementskonzerte in Bern und Lausanne gefeiert. Dazwischen führten ihn viele Konzertreisen – als Solist sowie als Orchestermusiker – nach Paris, Monaco, Salzburg (Festspiele), Prag und Budapest. Er arbeitete mit den führenden Dirigenten seiner Zeit – Armin Jordan, Charles Dutoit u. a. – zusammen und wurde auch durch zahlreiche Plattenaufnahmen – so zum Beispiel bei der Firma Erato – bekannt; die Platteneinspielung von Igor Strawinskys Histoire du soldat wurde mit dem Grand Prix du disque ausgezeichnet. Antony Morf starb am 26. Mai 2016 in Basel.
Das Zusammentreffen mit Walter Furrer sei, so Frau Morf, am 18. Mai 1974 anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins, dem Walter Furrer seit 1952 angehörte, zustande gekommen. Antony Morf gewann damals den mit 5000 Franken dotierten Ersten Preis. Irgendwie müssen die beiden einander spontan sympathisch gewesen sein. Wie mir Frau Morf sagte, verfügte ihr Mann, ebenso wie Walter Furrer, über eine fundierte literarische Bildung sowie – und darin liegt eine ausgesprochene Wesensverwandtschaft – über einen angeborenen Sinn für skurrile Komik; Honoré Daumier zählte zu seinen Lieblingskünstlern.
Somit dürften sich die beiden Musiker ungeachtet des Altersunterschiedes von vornherein gut verstanden haben. Ich füge aus eigener Kenntnis hinzu, dass Walter Furrer wegen seiner zweiten Heirat mit seinem eigenen Sohn, der die neue Frau nicht akzeptierte, zerstritten war. Er litt sehr unter dieser Entfremdung, und es wäre durchaus denkbar, dass er den jungen Klarinettisten als eine Art «Wahlsohn» erlebte. So gesehen, könnte man die eingangs genannte Widmung als eine spontane Sympathiekundgebung einstufen.
Ich danke Frau Morf herzlich für das Gespräch und die dabei vermittelten wertvollen Informationen. Mein Dank geht auch an den Schweizerischen Tonkünstlerverein in Lausanne, wo ich mir am 22. Dezember 2016 mit Hilfe des Geschäftsführers Johannes Knapp zusätzliche Notizen zu Antony Morf machen konnte